Kandinsky
Essays über Kunst und Künstler
Dieses Buch kann als dritter Band einer von Kandinsky verf aß-
ten Schriftenreihe zur Kunst verstanden werden. Nach Über das
Geistige in der Kunst und Punkt und Linie zu Fläche enthält
dieser Band eine Reihe von Aufsätzen, die von den Beiträgen
für den Almanach Der Blaue Reiter bis zu den letzten Zeit-
schriftenveröffentlichungen reichen. Die Aufsätze sind aus
sehr verschiedenen Anlässen entstanden. Der erste hier wie-
dergegebene «Über die Formfrage» wurde für den Almanach
Der Blaue Reiter geschrieben. Er führt die Gedanken weiter,
die in Über das Geistige in der Kunst dargestellt sind. Von da
bis zu den verschiedenen Abhandlungen über konkrete Kunst
(ab 1938) und schließlich zum Text zu dem Gedenkbuch für
Sophie Taeuber-Arp spannt sich der Bogen des Interesses
und des textlichen Umfanges vom kurzen Vorwort bis zur
eingehenden theoretischen Auseinandersetzung, die vor allem
ab 1926 eine Weiterentwicklung der im Bauhaus-Buch Punkt
und Linie zu Fläche vertretenen Gedanken sind. Dadurch
wurden diese Texte, vor allem jene aus den letzten Jahren,
über konkrete Kunst, zum eigentlichen theoretischen Ver-
mächtnis Kandinskys.
Diesem Buch beigegeben, begleiten über 30 Zeichnungen den
Text. Sie sind so ausgesucht, daß mit ihnen die Entwicklung
des Zeichenstils, den Kandinsky geschafTen hat, möglichst
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Kandinsky: Essays über Kunst und Künstler
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Kandinsky
Essays über Kunst und Künstler
herausgegeben und kommentiert von Max Bill
THE HILLA VON REBAY FOUNDATION
77 MORNINGSIDE DRIVE
GREENS FARMS. CONNECTICUT 06436
Verlag Gerd Hat je Stuttgart
Printed in Germany
Copyright 1955 by Max Bill, Zürich und Nina Kandinsky, Neuilly s. Seine
Gedruckt von der Druckerei Jungmann, Göppingen
Gestaltet von Max Bill
Einführung
Dieses Buch könnte als der dritte Band einer Reihe von theoretischen
Schriften zur Kunst verstanden werden, die Wassily Kandinsky ver-
faßt hat.
Das erste Buch wäre Über das Geistige in der Kunst, erstmals im Dezem-
ber 1911 in München bei Piper erschienen. Es ist 1952, 40 Jahre später
vom Verlag Benteli, Bern-Bümpliz, neu aufgelegt worden.
Das zweite Buch wäre Punkt und Linie %u Fläche, das 1926 als 9. Bau-
haus-Buch bei Albert Langen, München, nun nach fast 20 Jahren,
1955, ebenfalls im Verlag Benteli wieder erschienen ist.
Diese beiden Bücher sind die eigentlichen zusammenhängenden theo-
retischen Traktate, die Kandinsky als solche konzipierte; das zweite
als logische Fortsetzung des ersten. Seine Bücher Klänge (1913, Piper,
München) und Rückblicke (1913, Der Sturm, Berlin) sind nicht als theo-
retische Äußerungen zu betrachten. Klänge ist ein rein künstlerisches
Dokument, Rückblicke hat vorwiegend biografischen Charakter.
Dieses neue Buch, dem ich den Titel gab: Kandinsky: Essays über Kunst
und Künstler, ist insofern anders geartet, als es sich hier nicht um ein
von Kandinsky konzipiertes Buch handelt, sondern um eine Sammlung
und Auswahl seiner an verschiedenen Orten erschienenen Aufsätze.
Wenn ich darauf verzichtet habe, einige wenige nicht zu berücksichtigen,
so deshalb, weil diese sich zum Teil inhaltlich zu sehr decken, das
heißt, daß von zwei Aufsätzen aus derselben Zeit, von denen wohl
auch der eine auf Grund des andern entstanden war, der wesent-
lichere hier veröffentlicht wird.
Dennoch ist es unvermeidlich, daß gewisse Wiederholungen auf-
treten. Oft benützt Kandinsky Zitate aus früher von ihm Geschrie-
benem, und öfter bei ähnlichen oder verschiedenen Anlässen dieselben.
Diese Wiederholungen ganz auszumerzen hieße jedoch die Texte ver-
stümmeln und unverständlich machen.
Die Aufsätze sind aus sehr verschiedenen Gründen entstanden. Der
erste hier wiedergegebene, «Über die Formfrage», wurde für den
bekannten Almanach Der Blaue Reiter geschrieben und ist eine Fort-
setzung der Gedanken, die in Über das Geistige in der Kunst dargestellt
sind. Von da bis zu den Abhandlungen über konkrete Kunst (ab 1938)
und schließlich zum Text zum Gedenkbuch für Sophie Taeuber-Arp,
spannt sich der Bogen des Interesses und des textlichen Umfanges vom
kurzen Katalog -Vorwort bis zur eingehenden theoretischen Ausein-
andersetzung, die vor allem ab 1926 eine Weiterentwicklung der im
Bauhaus-Buch Punkt und Linie t(U Fläche vertretenen Gedanken sind.
Dadurch wurden diese Texte, vor allem jene über konkrete Kunst
aus den letzten Jahren, zum eigentlichen theoretischen Vermächtnis
und zum Teil zur Korrektur der von Kandinsky erarbeiteten Grund-
lagen der Kunst, insbesondere der Malerei.
Dieses Buch habe ich zusammengestellt in dankbarer Erinnerung an
einen meiner wesentlichsten Lehrer am Bauhaus in Dessau. Über
seine damalige pädagogische Tätigkeit und Auswirkung schrieb ich
im Buch Wassily Kandinsky, das ich 1951 bei Maeght in Paris heraus-
gab, unter dem Titel «Kandinsky als Pädagoge und Erzieher» :
«Die erzieherische und pädagogische Arbeit Wassily Kandinskys be-
gann schon 1912, als er in München eine Privatschule für Malerei
gründete. Aber erst seine Tätigkeit in Moskau während der Jahre
1918 bis 1921 war in größerem Ausmaß erzieherischen Aufgaben
gewidmet. Damals, in seiner Funktion als Mitglied der Kunstabteilung
des Volkskommissariates für Volkserziehung, als Professor an der
Kunstakademie, als Direktor des Museums für malerische Kultur und
durch die Gründung der «Russischen Akademie für künstlerische
Wissenschaften» bewies Kandinsky, daß er sich der Verantwortung
bewußt war, die ein Künstler und Pionier gegenüber der Gesellschaft
zu übernehmen hat. Seine eigentliche Tätigkeit als Erzieher und Lehrer
begann jedoch erst 1922 mit seiner Berufung an das «Staatliche Bauhaus»
in Weimar, das 1919 von Walter Gropius gegründet worden war.
Kandinsky ist dem «Bauhaus», von da bis zum Schluß im Jahre 1933,
treu geblieben. Er machte die Umsiedlung von Weimar nach Dessau mit
und später von Dessau nach Berlin. Als die Nazis die Schule schlössen,
endete auch seine Lehrtätigkeit, und er ging bald darauf nach Paris.
Während fast 11 Jahren hat Kandinsky entscheidend am «Bauhaus»
gewirkt. Nicht nur als Lehrer, nicht nur als Vizedirektor, nicht nur
als Anreger durch seine Werke, sondern auch als verehrter Freund
und Ratgeber für jeden.
Kandinsky war sich bewußt, welch wesentliche Eindrücke davon aus-
gingen, daß er im ersten Semester des Vorkurses die jungen Studieren-
den in die Probleme der Kunst unserer Zeit einführte, daß er die Bedeu-
tung der Entwicklung der Malerei, als Disziplin der Gestaltung, auf
unkonventionelle, undogmatische, aber persönliche Art, aus der Erfah-
rung und Einsicht desKünstlers heraus,seinenSchülernmitteilenkonnte.
Als ich 1927 an das «Bauhaus» kam, war Kandinsky eben 60 Jahre
alt geworden. Ich hatte mich schon vorher gefragt, was denn all die
Maler am «Bauhaus» eigentlich täten, wirkten doch neben Kandinsky
dort noch Klee, Feininger, Schlemmer, Moholy, Muche und Albers.
Dabei wurde offiziell am «Bauhaus» nicht gemalt. Sehr bald merkte
ich, daß alle diese bedeutenden Künstler eine pädagogische Tätigkeit
ausübten, die mit ihrer Malerei teilweise nur in losem Zusammenhang
stand. So unterrichtete Kandinsky vorerst eine Art «Geschichte der
neueren Kunst» und in Verbindung damit, und im Anschluß daran,
eine Kompositionslehre, die sich auf den Erkenntnissen der Kunst-
entwicklung aufbaute. Ein Zeichenunterricht unter seiner Leitung be-
stand darin, daß aus den verschiedenartigsten Gegenständen eine Art
Stilleben aufgebaut wurde, das die Schüler dann zeichneten. Aber es
war kein Abzeichnen, sondern ein Suchen nach der Struktur der gesam-
ten Erscheinung. So entstanden Studien, in denen nur die horizontalen
oder nur die vertikalen oder diagonalen Elemente dargestellt wur-
den, verschieden betont nach ihrer Wichtigkeit. Oder die runden und
die eckigen Formen wurden einander gegenübergestellt.
Im ganzen nicht «Komposition», sondern «Analyse» des Vorhandenen.
Nicht Kunstunterricht, sondern elementare Beobachtungsschulung.
Etwas später entdeckte ich, daß am «Bauhaus» trotz aller «offiziellen
Ablehnung» gemalt wurde. Es gab einige Kameraden, die nichts
anderes taten als Bilder malen. Das war bei uns sehr verpönt. Wir
forderten praktische Ergebnisse, Sozialprodukte. Aber im Unter-
grund gab es eine «maladie de la peinture», eine Art schleichende Sucht
nach den verbotenen Früchten. Auch bei mir kam es so weit, daß ich
mich eines Tages erkundigte, was denn das sei, diese «freien Mal-
klassen» der Meister, und ob ich da mitmachen könnte. So trat ich bei
Kandinsky (und Klee) in die freie Malklasse ein. Das bedeutete, daß
man jede Woche einmal seine neuesten «Erfindungen» zu Kandinsky
oder zu Klee trug. Bei Klee waren es viele Schüler, bei Kandinsky
eine kleinere Zahl. Der Zugang zu seiner Kunst schien schwieriger
zu sein als zu der Klees, die durch ihre äußere Erscheinung den rational
denkenden Bauhausstudierenden als Kompensation dienen mochte.
Nun erst lernte ich Kandinsky kennen, wie er in seiner besorgten Art
versuchte, den richtigen Weg zu weisen oder uns davon überzeugte,
daß die Entwicklung weitergehen müsse. Und was sehr wichtig war:
oft wurde in erster Linie überhaupt nicht von der Malerei gesprochen,
sondern von andern wichtigen Fragen, auch von den persönlichen An-
liegen. Und gerade dadurch wurde die Wirkung so nachhaltig auch
für das, was Kandinsky als Maler zu sagen hatte. Gerade darin lag
das pädagogische Talent Kandinskys : Er war ein Mensch, der hilfreich
die Jungen führte. Der ihnen nicht die Zweifel nahm, sondern der in
ihnen die sichere Urteilsbildung, die ununterbrochene Kritik und Selbst-
kritik wachrief. Seine Menschlichkeit, zusammen mit seinem feinen
Gefühl für die Situation, und seine väterliche Güte waren das Geheimnis
seines erzieherischen Erfolges, der wiederum undenkbar gewesen wäre
ohne sein umfassendes Wissen und sein andauerndes Streben nach neuen
Erkenntnissen.»
Ich möchte außerdem noch darauf hinweisen, daß das erwähnte Buch
neben Beiträgen von Hans Arp, Charles Estienne, Will Grohmann,
Ludwig Grote, Nina Kandinsky und Alberto Magnelli, einen sehr
wesentlichen Aufsatz enthält von Carola Giedion -Welcker, betitelt
«Kandinsky als Theoretiker». Darin wird vom Standpunkt des Kunst-
historikers aus die theoretische Leistung Kandinskys gewertet.
Ich möchte hier meiner Freundin Nina Kandinsky für die bereitwillige
Hilfe danken, mit der sie die Vorarbeit für die Herausgabe dieser ge-
sammelten Schriften gefördert hat, und für ihr Entgegenkommen, das
die Herausgabe in der vorliegenden Form ermöglicht hat.
Schließlich möchte ich meiner früheren Sekretärin Corinne Pulver
danken für ihre Hilfe beim Beschaffen der druckfertigen Manuskripte,
und meinem Sekretär Eugen Gomringer, der einen großen Teil der
Übertragungen der vielfach nur französisch oder englisch vorliegen-
den Texte ins Deutsche besorgte.
Diesem Buch beigegeben, begleiten über 30 Zeichnungen den Text.
Sie sind nach Möglichkeit so ausgesucht, daß mit ihnen die Entwick-
lung des Zeichenstils, den Kandinsky geschaffen hat, möglichst cha-
rakteristisch wiedergegeben wird, von 1910, dem Beginn seiner ersten
Abstraktionen, bis 1944, dem Jahr seines Todes.
Es ist das erste Mal, daß in diesem Umfang und in so vollständiger
Auswahl Zeichnungen von Kandinsky veröffentlicht werden. Im
Juli 1933 war allerdings im Heft 14 der Zeitschrift «Selection» in
Antwerpen eine schön gerundete Reihe von Zeichnungen erschienen,
begleitet von einem provisorischen Werkverzeichnis. Doch ist jenes
Heft schon seit vielen Jahren vergriffen. Dadurch füllen die den Text
hier begleitenden Zeichnungen eine Lücke aus, nicht nur als Ersatz,
sondern auch als Fortsetzung.
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Für Kandinsky hatte die Zeichnung zwei verschiedene Funktionen,
trotzdem war er stets darauf bedacht, der Zeichnung als solcher einen
eigenen Wert zuzugestehen. Für ihn war die Zeichnung in vielen,
wohl den meisten Fällen, das Schema, mit dem er die Struktur seiner
Bild-Ideen festlegte. Dies gilt vor allem von seinen ganz frühen
Zeichnungen ab 1910; doch auch später enthält die Zeichnung oft das
Wesentliche einer Bildkomposition, sei es als Schema, sei es schon in
weiterer Ausführung.
Doch wie es bei Kandinsky ein namhaftes grafisches Werk gibt
(Holzschnitte, Radierungen und Lithografien), so entstanden auch
selbständige Zeichnungen, die nicht als Ölbilder wiederkehren.
Es handelt sich dabei meist um Zeichnungen, mit denen er ein be-
stimmtes Form- oder Kompositionsprinzip darstellte, wie beispiels-
weise in einer Gruppe, die im Zusammenhang mit Punkt und Linie
%u Fläche entstand.
Im weiteren Forminhalt und Inhaltsform der Zeichnungen deuten
zu wollen, über ihren eigenen Ausdruck hinaus, scheint hier weder
angebracht noch nötig, hat doch Kandinsky in seinen Schriften es
selbst unternommen zu erläutern, was Sinn und Ziel seiner Kunst sei.
Wir haben bei Kandinsky den Fall einer Identität von gestaltendem
Schaffen und theoretisch-schriftlicher Äußerung vor uns, der in seinem
Bemühen, sich über das Künstlerische hinaus auch intellektuell, vor
sich selbst und gegenüber seiner Umwelt, zu rechtfertigen, mit be-
sonderer Eindeutigkeit dasteht. Damit befindet sich Kandinsky in der
bevorzugten Lage, sich, durch seine eigenen Äußerungen, vor Fehl-
interpretationen Dritter weitgehend geschützt zu haben. Wenn man
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erlebt, was heute von mehr oder weniger Berufenen in die Kunst-
werke und in das Leben der Künstler hineingeheimnißt wird, wobei
oft eher reklamehafte Geschäftigkeit als wirkliches Verständnis den
Anlaß bilden, ist man Kandinsky dankbar für seine authentischen
Essays über Kunst und Künstler.
Zürich, Neujahr 1955 Max Bill
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Über die Formfrage
«Über die Formfrage» erschien 1912 in der Publikation Der Blaue
Reiter im Verlag R. Piper & Co., München, herausgegeben von
Kandinsky und Franz Marc. Es handelt sich dabei um einen der
umfangreichsten Beiträge dieser vielzitierten Publikation und um
eine, sowohl nach Stil und Inhalt, an Über das Geistige in der Kunst
(im Dezember 1911 ebenfalls bei Piper erschienen) angelehnte und
deren Gedanken weiterführende Abhandlung.
Zur bestimmten Zeit werden die Notwendigkeiten reif. Das heißt
der schaffende Geist (welchen man als den abstrakten Geist bezeich-
nen kann) findet einen Zugang zur Seele, später zu den Seelen und
verursacht eine Sehnsucht, einen innerlichen Drang.
Wenn die zum Reifen einer präzisen Form notwendigen Bedin-
gungen erfüllt sind, so bekommt die Sehnsucht, der innere Drang,
die Kraft, im menschlichen Geist einen neuen Wert zu schaffen,
welcher bewußt oder unbewußt im Menschen zu leben anfängt.
Bewußt oder unbewußt, sucht der Mensch von diesem Augenblick
an dem in geistiger Form in ihm lebenden neuen Wert eine ma-
terielle Form zu finden.
Das ist das Suchen des geistigen Wertes nach Materialisation. Die
Materie ist hier eine Vorratskammer, aus welcher der Geist das ihm
in diesem Falle Nötige wählt, wie es der Koch tut.
Das ist das Positive, das Schaffende. Das ist das Gute. Der weiße
befruchtende Strahl.
Dieser weiße Strahl führt zur Evolution, zur Erhöhung. So ist hin-
ter der Materie, in der Materie der schaffende Geist verborgen.
Das Verhüllen des Geistes in der Materie ist oft so dicht, daß es im
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allgemeinen wenig Menschen gibt, die den Geist hindurchsehen
können. So sehen gerade heute viele den Geist in der Religion,
in der Kunst nicht. Es gibt ganze Epochen, die den Geist ableugnen,
da die Augen der Menschen im allgemeinen zu solchen Zeiten den
Geist nicht sehen können. So war es im 19. Jahrhundert und so ist
es im großen und ganzen noch heute.
Die Menschen werden verblendet.
Eine schwarze Hand legt sich auf ihre Augen. Die schwarze Hand
gehört dem Hassenden. Der Hassende versucht durch alle Mittel die
Evolution, die Erhöhung zu bremsen.
Das ist das Negative, das Zerstörende. Das ist das Böse. Die schwarte
todbringende Hand.
Die Evolution, die Bewegung nach vor- und aufwärts, ist nur dann
möglich, wenn die Bahn frei ist, das heißt wenn keine Schranken im
Wege stehen. Das ist die äußere Bedingung.
Die Kraft, die auf der freien Bahn den menschlichen Geist nach vor-
und aufwärts bewegt, ist der abstrakte Geist. Er muß natürlich her-
ausklingen und gehört werden können. Der Ruf muß möglich sein.
Das ist die innere Bedingung.
Diese beiden Bedingungen zu vernichten, ist das Mittel der schwar-
zen Hand gegen die Evolution.
Die Werkzeuge dazu sind: die Angst vor der freien Bahn, vor der
Freiheit (Banausentum) und die Taubheit gegen den Geist (stumpfer
Materialismus).
Deshalb wird jeder neue Wert von den Menschen feindlich betrachtet.
Man sucht ihn zu bekämpfen durch Spott und Verleumdung. Der den
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Wert bringende Mensch wird als lächerlich und unehrlich dargestellt.
Es wird über den neuen Wert gelacht und geschimpft. Das ist der
Schreck des Lebens.
Die Freude des Lebens ist der unaufhaltsame, ständige Sieg des neuen
Wertes.
Dieser Sieg geht langsam vor sich. Der neue Wert erobert ganz
allmählich die Menschen. Und wenn er in vielen Augen unzweifel-
haft wird, so wird aus diesem Wert, der heute unumgänglich nötig
war, eine Mauer gebildet, die gegen Morgen gerichtet ist.
Das Verwandeln des neuen Wertes (der Frucht der Freiheit) in eine
versteinerte Form (Mauer gegen Freiheit) ist das Werk der schwarzen
Hand.
Die ganze Evolution, das heißt das innere Entwickeln und die
äußere Kultur, ist also ein Verschieben der Schranken.
Die Schranken werden ständig aus neuen Werten geschaffen, die die
alten Schranken umgestoßen haben.
So sieht man, daß im Grunde nicht der neue Wert das wichtigste ist,
sondern der Geist, welcher sich in diesem Werte offenbart hat.
Und weiter die für die Offenbarungen notwendige Freiheit.
So sieht man, daß das Absolute nicht in der Form (Materialismus)
zu suchen ist.
Die Form ist immer zeitlich, das heißt relativ, da sie nichts mehr ist,
als das heute notwendige Mittel, in welchem die heutige Offen-
barung sich kundgibt, klingt.
Der Klang ist also die Seele der Form, die nur durch den Klang
lebendig werden kann und von innen nach außen wirkt.
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Die Form ist der äußere Ausdruck des inneren Inhaltes.
Deshalb sollte man sich aus der Form keine Gottheit machen. Und
man sollte nicht länger um die Form kämpfen, als sie zum Ausdrucks-
mittel des inneren Klanges dienen kann. Deshalb sollte man nicht in
einer Form das Heil suchen.
Diese Behauptung muß richtig verstanden werden. Für jeden Künstler
(das heißt produktiven Künstler und nicht «Nachempfinder») ist sein
Ausdrucksmittel (= Form) das beste, da es am besten das ver-
körpert, was er zu verkünden verpflichtet ist. Daraus wird aber oft
fälschlich die Folge gezogen, daß dieses Ausdrucksmittel auch für
die andern Künstler das beste ist oder sein sollte.
Da die Form nur ein Ausdruck des Inhaltes ist und der Inhalt bei
verschiedenen Künstlern verschieden ist, so ist es klar, daß es zu
derselben Zeit viel verschiedene Formen geben kann, die gleich gut sind.
Die Notwendigkeit schafft die Form. In großen Tiefen lebende Fische
haben keine Augen. Der Elefant hat einen Rüssel. Das Chamäleon
verändert seine Farbe undsoweiter.
So spiegelt sich in der Form der Geist des einzelnen Künstlers. Die
Form trägt den Stempel der Persönlichkeit.
Die Persönlichkeit kann aber natürlich nicht als etwas außer Zeit
und Raum Stehendes aufgefaßt werden. Sondern sie unterliegt in
gewissem Maße der Zeit (Epoche), dem Raum (Volk).
Ebenso wie jeder einzelne Künstler sein Wort zu verkünden hat, so
auch jedes Volk, und also auch das Volk, zu welchem dieser Künstler
gehört. Dieser Zusammenhang spiegelt sich in der Form und wird
durch das Nationale im Werke bezeichnet.
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Und endlich hat auch jede Zeit eine ihr speziell gegebene Aufgabe,
die durch sie mögliche Offenbarung. Die Abspiegelung dieses Zeit-
lichen wird als Stil im Werke erkannt.
Alle diese drei Elemente des Stempels auf einem Werke sind unver-
meidlich. Es ist nicht nur überflüssig, für ihr Vorhandensein zu sorgen,
sondern auch schädlich, da das Gewaltsame auch hier nichts als eine
Vortäuschung, einen zeitlichen Betrug erzielen kann.
Und andererseits wird es von selbst klar, daß es überflüssig und
schädlich ist, nur eins der drei Elemente besonders geltend machen
zu wollen. So wie heute viele sich um das Nationale und andere
wieder um den Stil bemühen, so hat man vor kurzem besonders dem
Kultus der Persönlichkeit (des Individuellen) gehuldigt.
Wie im Anfang gesagt wurde, bemächtigt sich der abstrakte Geist
erst eines einzelnen menschlichen Geistes, später beherrscht er eine
immer größer werdende Anzahl der Menschen. In diesem Augen-
blick unterliegen einzelne Künstler dem Zeitgeist, welcher sie zu
einzelnen Formen zwingt, die einander verwandt sind und dadurch
auch eine äußerliche Ähnlichkeit besitzen.
Diesen Moment nennt man eine Bewegung. Sie ist vollkommen be-
rechtigt und (ebenso wie die einzelne Form für einen Künstler)
einer Gruppe von Künstlern unentbehrlich.
Und so wie kein Heil in einer Form eines einzelnen Künstlers zu
suchen ist, so auch nicht in dieser Gruppenform. Für jede Gruppe ist
ihre Form die beste, da sie am besten das verkörpert, was sie zu ver-
künden verpflichtet ist. Man sollte aber nicht daraus schließen, daß
diese Form für alle die beste ist oder sein sollte. Auch hier soll volle
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Freiheit herrschen und man soll jede Form gelten lassen, man soll
jede Form für richtig (= künstlerisch) halten, die ein äußerer Aus-
druck des inneren Inhaltes ist. Wenn man sich anders verhält, so
dient man nicht mehr dem freien Geiste (weißer Strahl), sondern der
versteinerten Schranke (schwarze Hand).
Also auch hier kommt man zu demselben Resultat, welches oben
festgestellt wurde: nicht die Form (Materie) im allgemeinen ist das
wichtigste, sondern der Inhalt (Geist).
Also die Form kann angenehm, unangenehm wirken, schön, unschön,
harmonisch, disharmonisch, geschickt, ungeschickt, fein, grob und
so weiter erscheinen, und doch muß sie weder wegen den für positiv
gehaltenen Eigenschaften noch als negativ empfundenen Qualitäten
angenommen oder verworfen werden. Alle diese Begriffe sind voll-
kommen relativ, was man in der unendlichen Wechselreihe der schon
dagewesenen Formen auf den ersten Blick beobachtet.
Und ebenso relativ ist also die Form selbst. So ist die Form auch zu
schätzen und aufzufassen. Man muß sich so zu einem Werk stellen,
daß auf die Seele die Form wirkt. Und durch die Form der Inhalt
(Geist, innerer Klang). Sonst erhebt man das Relative zum Abso-
luten.
Im praktischen Leben wird man kaum einen Menschen finden,
welcher, wenn er nach Berlin fahren will, den Zug in Regensburg
verläßt. Im geistigen Leben ist das Aussteigen in Regensburg eine
ziemlich gewöhnliche Sache. Manchmal will sogar der Lokomotiv-
führer nicht weiter fahren und die sämtlichen Reisenden steigen in
Regensburg aus. Wie viele, die Gott suchten, blieben schließlich bei
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einer geschnitzten Figur stehen! Wie viele, die Kunst suchten,
blieben an einer Form hängen, die ein Künstler für seine Zwecke
gebraucht hat, sei es Giotto, Raphael, Dürer oder van Gogh!
Und also als letzter Schluß muß festgestellt werden : nicht das ist das
wichtigste, ob die Form persönlich, national, stilvoll ist, ob sie der
Hauptbewegung der Zeitgenossen entspricht oder nicht, ob sie mit
vielen oder wenigen anderen Formen verwandt ist oder nicht, ob sie
ganz einzeln dasteht oder nicht, sondern das wichtigste in der Formfrage
ist das, ob die Form aus der inneren Notwendigkeit gewachsen ist oder nicht?
Das Vorhandensein der Formen in der Zeit und im Raum ist ebenso
aus der inneren Notwendigkeit der Zeit und des Raumes zu erklären.
Deshalb wird es im letzten Grunde möglich werden, die Merkmale
der Zeit und des Volkes herauszuschälen und schematisch darzustellen.
Und je größer die Epoche ist, das heißt je größer (quantitativ) die
Bestrebungen zum Geistigen sind, desto reicher in der Zahl werden
die Formen einerseits, und desto größere Gesamtströmungen (Grup-
penbewegungen) sind zu beobachten, was von selbst klar ist.
Diese Merkmale einer großen geistigen Epoche (die prophezeit
wurde und heute in einem der ersten Anfangsstadien sich kund gibt)
sehen wir in der gegenwärtigen Kunst. Und zwar :
1 Das heißt, man darf nicht aus einer Form eine Uniform machen.
Kunstwerke sind keine Soldaten. Eine und dieselbe Form kann
also wieder auch bei demselben Künstler einmal die beste, ein
anderes Mal die schlechteste sein. Im ersten Fall ist sie auf dem
Boden der inneren Notwendigkeit gewachsen, im zweiten - auf
dem Boden der äußeren Notwendigkeit: aus dem Ehrgeiz und der
Habsucht.
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1. eine große Freiheit, die manchem grenzenlos erscheint und die
2. den Geist hörbar macht, welchen
3. wir mit einer ganz besonders starken Kraft sich in den Dingen
offenbaren sehen, welcher
4. alle geistigen Gebiete sich allmählich zum Werkzeug nehmen wird
und schon nimmt, woraus
5. er auch auf jedem geistigen Gebiete, also auch in der plastischen
Kunst (speziell in der Malerei) viele einzelnstehende und Gruppen
umfassende Ausdrucksmittel (Formen) schafft und
6. welchem heute die ganze Vorratskammer zur Verfügung steht,
das heißt es wird jede Materie, von der «härtesten» bis zu der nur
zweidimensional lebenden (abstrakten), als Formelement angewendet,
ad 1. Was die Freiheit anlangt, so drückt sie sich aus im Streben zur
Befreiung von den schon ihr Ziel verkörpert habenden Formen, das
heißt, von den alten Formen, im Streben zum Schaffen der neuen
und unendlich mannigfaltigen Formen.
ad 2. Das unwillkürliche Suchen nach den äußersten Grenzen der
Ausdrucksmittel der heutigen Epoche (Ausdrucksmittel der Per-
sönlichkeit, des Volkes, der Zeit) ist andererseits ein Unterordnen
der scheinbar zügellosen Freiheit, welches vom Zeitgeiste bestimmt
wird, und eine Präzisierung der Richtung, in welcher das Suchen ge-
schehen muß. Der unter einem Glas in allen Richtungen laufende
kleine Käfer glaubt eine unbeschränkte Freiheit vor sich zu sehen.
Er stößt aber in einer gewissen Entfernung auf das Glas : sehen kann
er weiter, aber gehen nicht. Und die Bewegung des Glases nach
vorwärts gibt ihm die Möglichkeit, weiteren Raum zu durchlaufen
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Und seine Hauptbewegung wird von der lenkenden Hand bestimmt.
- So wird auch unsere sich vollkommen frei schätzende Epoche auf
bestimmte Grenzen stoßen, die aber «morgen» verschoben werden.
ad 3. Diese scheinbar zügellose Freiheit und das Eingreifen des
Geistes entspringt aus der Tatsache, daß wir in jedem Ding den
Geist, den inneren Klang zu fühlen beginnen. Und gleichzeitig wird
diese beginnende Fähigkeit zu einer reiferen Frucht der scheinbar
zügellosen Freiheit und des eingreifenden Geistes.
ad. 4. Hier können wir nicht die bezeichneten Wirkungen auf allen
anderen geistigen Gebieten zu präzisieren versuchen. Doch soll es
jedem von selbst klar werden, daß das Mitwirken der Freiheit und
des Geistes früher oder später sich überall abspiegeln wird.1
ad. 5. In der bildenden Kunst (ganz besonders in der Malerei) be-
gegnen wir heute einem auffallenden Reichtum der Formen, die teils
als Formen der einzeln stehenden großen Persönlichkeiten erscheinen,
teils ganze Gruppen von Künstlern in einem großen und vollkommen
präzis dahinwallenden Strom mitreißen.
Und die große Verschiedenheit dieser Formen läßt doch leicht das
gemeinsame Streben erkennen. Und gerade in der Massenbewegung
läßt sich heute der alles umfassende Formgeist erkennen. Und so
genügt es, wenn man sagt : alles ist erlaubt. Das heute Erlaubte kann
doch nicht überschritten werden. Das heute Verbotene bleibt uner-
schütterlich stehen.
Und man sollte sich keine Grenzen stellen, da sie ohnehin gestellt
1 Etwas näher habe ich diese Frage in meiner Schrift Über das Geistige
in der Kunst erörtert.
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sind. Das gilt nicht nur für den Absender (Künstler) sondern auch
für den Empfänger (Beschauer). Er kann und muß dem Künstler
folgen, und keine Angst sollte er haben, daß er auf Irrwege geleitet
wird. Der Mensch kann sogar physisch sich nicht schnurgerade
bewegen (die Feld- und Wiesenpfade!) und noch weniger geistig.
Und gerade unter den geistigen Wegen ist oft der schnurgerade der
lange, da er falsch ist, und der als falsch erscheinende ist oft der
richtigste.
Das zum lauten Sprechen gebrachte «Gefühl» wird früher oder später
den Künstler und ebenso den Beschauer richtig leiten. Das ängstliche
Sichhalten an einer Form führt schließlich unvermeidlich in eine
Sackgasse. Das offene Gefühl - zur Freiheit. Das erste ist das Folgen
der Materie. Das zweite - dem Geiste : der Geist schafft eine Form
und geht zu weiteren über.
ad. 6. Das auf einen Punkt (sei es Form oder Inhalt) gerichtete Auge
kann unmöglich eine große Fläche übersehen. Das auf der Ober-
fläche herumstreifende unaufmerksame Auge übersieht diese große
Fläche oder einen Teil derselben, bleibt aber an den äußeren Ver-
schiedenheiten hängen und verliert sich in Widersprüchen. Der Grund
dieser Widersprüche liegt in der Verschiedenheit der Mittel, die der
heutige Geist aus der Vorratskammer der Materie scheinbar planlos
herausreißt. «Anarchie» nennen viele den gegenwärtigen Zustand
der Malerei. Dasselbe Wort wird schon hier und da auch bei der
Bezeichnung des gegenwärtigen Zustandes in der Musik gebraucht.
Darunter versteht man fälschlich ein planloses Umwerfen und Unord-
nung. Die Anarchie ist Planmäßigkeit und Ordnung, welche nicht
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durch eine äußere und schließlich versagende Gewalt hergestellt werden,
sondern durch das Gefühl des Guten geschaffen werden. Also auch hier
werden Grenzen gestellt, die aber als innere bezeichnet werden müs-
sen und die äußeren ersetzen müssen. Und auch diese Grenzen werden
immer erweitert, wodurch die immer zunehmende Freiheit entsteht,
die ihrerseits freie Bahn schafft für die weiteren Offenbarungen.
Die gegenwärtige Kunst, die in diesem Sinne richtig als anarchistisch
zu bezeichnen ist, spiegelt nicht nur den schon eroberten geistigen
Standpunkt ab, sondern sie verkörpert als eine materialisierende Kraft
das zur Offenbarung gereifte Geistige.
Die vom Geiste aus der Vorratskammer der Materie herausgerissenen
Verkörperungsformen lassen sich leicht zwischen zwei Pole ordnen.
Diese zwei Pole sind :
1. die große Abstraktion,
2. die große Realistik.
Diese zwei Pole eröffnen %wei Wege, die schließlich %u einem Ziel
führen.
Zwischen diesen zwei Polen liegen viele Kombinationen der ver-
schiedenen Zusammenklänge des Abstrakten mit dem Realen.
Diese beiden Elemente waren in der Kunst immer vorhanden, wobei
sie als das «Reinkünstlerische» und das «Gegenständliche» zu be-
zeichnen waren. Das erste drückte sich im zweiten aus, wobei das
zweite dem ersten diente. Es war ein verschiedenartiges Balancieren,
welches scheinbar im absoluten Gleichgewicht den Höhepunkt des
Idealen zu erreichen suchte.
Und es scheint, daß man heute in diesem Ideal kein Ziel mehr findet,
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daß der die Schalen der Waage haltende Hebel verschwunden ist und
daß beide Schalen als selbständige, voneinander unabhängige Ein-
heiten ihre Existenzen getrennt zu führen beabsichtigen. Und auch
in diesem Zerbrechen der idealen Waage sieht man «Anarchistisches».
Dem angenehmen Ergänzen des Abstrakten durch das Gegenständ-
liche und umgekehrt hat die Kunst scheinbar ein Ende bereitet.
Einerseits wird dem Abstrakten die divertierende Stütze im Gegen-
ständlichen genommen und der Beschauer fühlt sich in der Luft
schweben. Man sagt: die Kunst verliert den Boden. Andererseits
wird dem Gegenständlichen die divertierende Idealisierung im Ab-
strakten (das «künstlerische» Element) genommen und der Beschauer
fühlt sich an den Boden genagelt. Man sagt : die Kunst verliert das Ideal.
Diese Vorwürfe wachsen aus dem mangelhaft entwickelten Gefühl.
Die Gewohnheit, der Form die Hauptaufmerksamkeit zu schenken
und die daraus fließende Art des Beschauers, das heißt das Hängen
an der gewohnten Form des Gleichgewichtes, sind die verblendenden
Kräfte, die dem freien Gefühl keine freie Bahn lassen.
Die erwähnte, erst keimende große Realistik ist ein Streben, aus dem
Bilde das äußerliche Künstlerische zu vertreiben und den Inhalt des
Werkes durch einfache («unkünstlerische») Wiedergabe des einfachen
harten Gegenstandes zu verkörpern.
Die in dieser Art aufgefaßte und im Bilde fixierte äußere Hülse
des Gegenstandes und das gleichzeitige Streichen der gewohnten
aufdringlichen Schönheit entblößen am sichersten den inneren Klang
des Dinges. Gerade durch diese Hülse bei diesem Reduzieren des
«Künstlerischen» auf das Minimum klingt die Seele des Gegen-
26
Standes am stärksten heraus, da die äußere wohlschmeckende Schön-
heit nicht mehr ablenken kann.1
Und das ist nur darum möglich, weil wir immer weiter kommen, auf
dem Wege, die ganze Welt so, wie sie ist, also in keiner verschönenden
Interpretation hören zu können.
Das %um Minimum gebrachte «Künstlerische» muß hier als das am stärksten
wirkende Abstrakte erkannt werden?
Der große Gegensatz zu dieser Realistik ist die große Abstraktion,
die aus dem Bestreben, das Gegenständliche (Reale) scheinbar ganz
auszuschalten, besteht und den Inhalt des Werkes in «unmateriellen»
Formen zu verkörpern sucht. Das in dieser Art aufgefaßte und im
1 Den Inhalt des gewohnten Schönen hat der Geist schon absorbiert
und findet keine neue Nahrung darin. Die Form dieses gewohnten
Schönen gibt dem faulen körperlichen Auge die gewohnten Ge-
nüsse. Die Wirkung des Werkes bleibt im Bereiche des Körperlichen
stecken. Das geistige Erlebnis wird unmöglich. So bildet oft dieses
Schöne eine Kraft, die nicht zum Geist, sondern vom Geist führt.
2 Die quantitative Verminderung des Abstrakten ist also der qualitativen
Vergrößerung des Abstrakten gleich. Hier berührten wir eins der
wesentlichsten Gesetze: das äußere Vergrößern eines Ausdrucks-
mittels führt unter Umständen zum Vermindern der inneren Kraft
desselben. Hier ist 2 + 1 weniger als 2 — 1. Dieses Gesetz offenbart
sich natürlich auch in der kleinsten Ausdrucksform: ein Farben-
fleck verliert oft an der Intensität und muß an der Wirkung ver-
lieren - durch äußere Vergrößerung und durch die äußere Steige-
rung der Stärke. Eine besonders gute Farbenbewegung entsteht
oft durch das Hemmen derselben; ein schmerzlicher Klang kann
durch direkte Süße der Farbe erzielt werden undsoweiter. Das alles
sind Äußerungen des Gesetzes des Gegensatzes in seinen weiteren
Folgen. Kurz gesagt : aus der Kombination des Gefühls und der Wissenschaft
entsteht die wahre Form. Hier muß ich wieder an den Koch erinnern !
Die gute körperliche Speise entsteht auch aus der Kombination
eines guten Rezeptes (wo alles genau in Pfund und Gramm bezeich-
27
Bild fixierte abstrakte Leben der auf das Minimale reduzierten gegen-
ständlichen Formen und also das auffallende Vorwiegen der ab-
strakten Einheiten entblößt am sichersten den inneren Klang des
Bildes. Und ebenso, wie in der Realistik durch das Streichen des Ab-
strakten der innere Klang verstärkt wird, so wird auch in der Abstrak-
tion dieser Klang durch das Streichen des Realen verstärkt. Dort
war es die gewohnte äußere wohlschmeckende Schönheit, die den
Dämpfer bildete. Hier ist es der gewohnte äußere unterstützende
Gegenstand.
Zum «Verständnis» dieser Art Bilder ist auch dieselbe Befreiung
wie in der Realistik nötig, das heißt auch hier muß es möglich werden,
die ganze Welt, so wie sie ist, ohne gegenständliche Interpretation
hören zu können. Und hier sind diese abstrahierten oder abstrakten
Formen (Linien, Flächen, Flecken undsoweiter) nicht selbst als
solche wichtig, sondern nur ihr innerer Klang, ihr Leben. So wie in
der Realistik nicht der Gegenstand selbst, oder seine äußere Hülse,
sondern sein innerer Klang, Leben wichtig sind.
Das %um Minimum gebrachte «Gegenständliche» muß in der Abstraktion als
das am stärksten wirkende Reale erkannt werden?
net ist) und aus dem lenkenden Gefühl. Ein großes Merkmal unserer
Zeit ist das Aufgehen des Wissens : die Kunstwissenschaft nimmt
allmählich den ihr gebührenden Platz ein. Das ist der kommende
«Generalbaß», welchem natürlich eine unendliche Wechsel- und
Entwicklungsbahn bevorsteht !
1 Also am anderen Pol treffen wir dasselbe wie eben erwähnte
Gesetz, wonach die quantitative Verminderung der qualitativen Ver-
größerung gleich ist.
28
So sehen wir schließlich: wenn in der großen Realistik das Reale
auffallend groß erscheint und das Abstrakte auffallend klein und in
der großen Abstraktion dieses Verhältnis umgekehrt zu sein scheint,
so sind im letzten Grunde (= Ziele) diese zwei Pole einander gleich.
Zwischen diesen zwei Antipoden kann das Zeichen des Gleichnisses
gestellt werden :
Realistik = Abstraktion
Abstraktion = Realistik .
Die größte Verschiedenheit im Äußeren wird %ur größten Gleichheit im
Inneren.
Einige Beispiele werden uns aus dem Gebiet der Reflexion in das
Gebiet des Greifbaren versetzen. Wenn der Leser irgendeinen Buch-
staben dieser Zeilen mit ungewohnten Augen anschaut, das heißt
nicht als ein gewohntes Zeichen eines Teiles eines Wortes, sondern
erst als Ding, so sieht er in diesem Buchstaben außer der praktisch-
zweckmäßig vom Menschen geschaffenen abstrakten Form, die eine
ständige Bezeichnung eines bestimmten Lautes ist, noch eine kör-
perliche Form, die ganz selbständig einen bestimmten äußeren und
inneren Eindruck macht, das heißt unabhängig von der eben er-
wähnten abstrakten Form. In diesem Sinne besteht der Buchstabe:
1. aus der Hauptform = Gesamterscheinung, die, sehr grob be-
zeichnet, «lustig», «traurig», «strebend», «sinkend», «trotzig», «protzig»
undsoweiter erscheint;
2. besteht der Buchstabe aus einzelnen, so oder anders gebogenen
Linien, die auch jedesmal einen bestimmten inneren Eindruck machen,
das heißt ebenso «lustig», «traurig» undsoweiter sind.
29
Wenn der Leser diese zwei Elemente des Buchstabens gefühlt hat,
so entsteht in ihm sofort das Gefühl, welches dieser Buchstabe als
Wesen mit innerem Leben verursacht.
Man soll hier nicht mit der Erwiderung kommen, daß dieser Buch-
stabe auf einen Menschen so, auf den anderen anders wirkt. Das ist
nebensächlich und verständlich. Im allgemeinen gesagt, wirkt jedes
Wesen auf verschiedene Menschen so oder anders. Wir sehen nur,
daß der Buchstabe aus zwei Elementen besteht, die doch schließlich
einen Klang ausdrücken. Die einzelnen Linien des zweiten Elementes
können «lustig» sein und doch kann der ganze Eindruck (Element I)
«traurig» wirken undsoweiter. Die einzelnen Bewegungen des
zweiten Elementes sind organische Teile des ersten. Ebensolche
Konstruktionen und ebensolche Unterordnungen der einzelnen
Elemente einem Klang beobachten wir in jedem Lied, jedem Klavier-
stück, in jeder Symphonie. Und ganz dieselben Vorgänge bilden
eine Zeichnung, eine Skizze, ein Bild. Hier offenbaren sich die Ge-
setze der Konstruktion. Für uns ist augenblicklich nur eins wichtig:
der Buchstabe wirkt. Und, wie gesagt, ist diese Wirkung doppelt:
1 . Der Buchstabe wirkt als ein zweckmäßiges Zeichen ;
2. er wirkt erst als Form und später als innerer Klang dieser Form
selbständig und vollkommen unabhängig.
Es ist uns wichtig, daß diese zwei Wirkungen in keinem gegenseitigen
Zusammenhange sind, und während die erste Wirkung eine äußere
ist, hat die zweite einen inneren Sinn.
Der Schluß, den wir daraus ziehen, ist der, daß die äußere Wirkung
eine andere sein kann, als die innere, die durch den inneren Klang verursacht
30
wird, was eins der mächtigsten und tiefsten Ausdrucksmittel in jeder
Komposition ist.1
Nehmen wir noch ein Beispiel. Wir sehen in diesem selben Buch einen
Gedankenstrich. Dieser Gedankenstrich, wenn er an der richtigen
Stelle angebracht ist - so wie ich es hier mache -, ist eine Linie
mit einer praktisch-zweckmäßigen Bedeutung. Wollen wir diese kleine
Linie verlängern und sie doch an einer richtigen Stelle lassen: der
Sinn der Linie bleibt, ebenso wie ihre Bedeutung, die aber durch das
Ungewohnte dieser Verlängerung eine undefinierbare Färbung gibt,
wobei der Leser sich fragt, warum die Linie so lang ist und ob
diese Länge nicht einen praktisch-zweckmäßigen Zweck hat. Stel-
len wir dieselbe Linie an einer falschen Stelle (so wie - ich es hier
mache). Das richtig Praktisch-Zweckmäßige ist verloren und nicht
mehr zu finden, der Beiklang der Frage ist hoch gewachsen. Es bleibt
der Gedanke an einen Druckfehler, das heißt an das entstellte Praktisch-
Zweckmäßige. Hier klingt das letztere negativ. Bringen wir dieselbe
Linie auf einer leeren Seite an, zum Beispiel lang und geschweift.
Dieser Fall ist dem letzten sehr ähnlich, nur denkt man (solange die
Hoffnung einerErklärung vorhanden ist)an das richtigPraktisch-Zweck-
mäßige. Und später (wenn keineErklärungzu finden ist) an das Negative.
Solange aber diese oder jene Linie im Buch bleibt, ist das Praktisch-
Zweckmäßige nicht definitiv zum Ausschalten zu bringen.
1 Hier kann ich solche großen Probleme nur im Vorübergehen
streifen. Der Leser braucht sich nur weiter in diese Fragen ver-
tiefen und das Gewaltige, Geheimnisvolle, unüberwindlich Ver-
lockende zum Beispiel dieser letzten Schlußfolge wird sich von
selbst einstellen.
31
Bringen wir also eine ähnliche Linie in ein Milieu, welches das
Praktisch-Zweckmäßige vollkommen zu vermeiden vermag. Zum
Beispiel auf eine Leinwand. Solange der Beschauer (es ist kein
Leser mehr) die Linie auf der Leinwand als ein Mittel zur Abgrenzung
eines Gegenstandes ansieht, unterliegt er auch hier dem Eindruck des
Praktisch-Zweckmäßigen. In dem Augenblick aber, in welchem er
sich sagt, daß der praktische Gegenstand auf dem Bilde meistens nur
eine zufällige und nicht eine rein malerische Rolle spielte, und daß
die Linie manchmal eine ausschließlich rein malerische Bedeutung
hatte1, in diesem Augenblick ist die Seele des Beschauers reif, den
reinen inneren Klang dieser Linie zu empfinden.
Ist denn dadurch der Gegenstand, das Ding aus dem Bilde vertrieben ?
Nein. Die Linie ist, wie wir oben gesehen haben, ein Ding, welches
ebenso einen praktisch-zweckmäßigen Sinn hat, wie ein Stuhl, ein
Brunnen, ein Messer, ein Buch undsoweiter. Und dieses Ding wird
in dem letzten Beispiel als ein reines malerisches Mittel gebraucht
ohne die andern Seiten, die es sonst besitzen kann - also in seinem
reinen inneren Klang.
Wenn also im Bild eine Linie von dem Ziel, ein Ding zu bezeichnen,
befreit wird und selbst als ein Ding fungiert, wird ihr innerer Klang
durch keine Nebenrollen abgeschwächt und bekommt ihre volle
innere Kraft.
So kommen wir zur Folge, daß die reine Abstraktion sich auch der
Dinge bedient, die ihr materielles Dasein führen, geradeso, wie die
1 Van Gogh hat mit besonderer Kraft die Linie als solche gebraucht,
ohne damit das Gegenständliche irgendwie markieren zu wollen.
32
©
%
reine Realistik. Die größte Verneinung des Gegenständlichen und
ihre größte Behauptung bekommen wieder das Zeichen des Gleich-
nisses. Und dieses Zeichen wird wieder durch das gleiche Ziel in
beiden Fällen berechtigt: durch das Verkörpern desselben inneren
Klanges.
Hier sehen wir, daß es also im Prinzip gar keine Bedeutung hat, ob eine
reale oder abstrakte Form vom Künstler gebraucht wird.
Da beide Formen innerlich gleich sind. Die Wahl muß dem Künstler über-
lassen werden, welcher selbst am besten wissen muß, durch welches
Mittel er am klarsten den Inhalt seiner Kunst materialisieren kann.
Abstrakt gesagt : Es gibt keine Frage der Form im Prinzip.
Und tatsächlich: wenn es eine prinzipielle Frage der Form gäbe, so
würde auch eine Antwort möglich sein. Und jeder, der diese Antwort
kennt, würde Kunstwerke schaffen können. Das heißt, zur selben
Zeit würde die Kunst nicht mehr existieren. Praktisch gesagt: Die
Frage der Form verändert sich in die Frage: welche Form soll ich
in diesem Falle anwenden, um zum notwendigen Ausdruck meines
inneren Erlebnisses zu gelangen? Die Antwort ist in diesem Falle
immer wissenschaftlich präzis, absolut und für andere Fälle relativ.
Das heißt eine Form, die die beste in einem Falle ist, kann in
einem anderen Falle die schlechteste sein: alles hängt hier von der
inneren Notwendigkeit ab, die allein eine Form richtig machen kann.
Und nur dann kann eine Form eine Bedeutung für mehrere haben,
wenn die innere Notwendigkeit unter dem Druck der Zeit und des
Raumes einzelne Formen wählt, die miteinander verwandt sind.
Dieses ändert aber an der relativen Bedeutung der Form gar nichts,
34
da die auch in diesem Falle richtige Form in vielen anderen Fällen
falsch sein kann.
Die sämtlichen Regeln, die schon in der früheren Kunst entdeckt
wurden und die später entdeckt werden und auf welche die Kunst-
historiker einen übertrieben großen Wert legen, sind keine allgemei-
nen Regeln: sie führen nicht zur Kunst. Wenn ich die Regeln des
Tischlers kenne, so werde ich immer einen Tisch machen können.
Der aber, welcher die vermutlichen Regeln des Malers kennt, darf
nicht sicher sein, daß er ein Kunstwerk schaffen kann.
Diese vermutlichen Regeln, die bald in der Malerei zu einem «Gene-
ralbaß» führen werden, sind nichts als Erkenntnis der inneren Wir-
kung der einzelnen Mittel und ihrer Kombinierung. Es wird aber nie
Regeln geben, durch welche eine gerade in einem bestimmten Falle
notwendige Anwendung der Formwirkung und Kombinierung der
einzelnen Mittel zu erreichen sein wird.
Das praktische Resultat: man darf nie einem Theoretiker (Kunsthistoriker,
Kritiker undsoweiter) glauben, wenn er behauptet, daß er irgendeinen objek-
tiven Fehler im Werke entdeckt hat.
Und: das Einzige, was der Theoretiker mit Recht behaupten kann,
ist das, daß er bis jetzt diese oder jene Anwendung des Mittels noch
nicht gekannt hat. Und: die Theoretiker, die, von der Analyse der
schon dagewesenen Formen ausgehend, ein Werk tadeln oder loben,
sind die schädlichsten Irreführer, die zwischen dem Werk und dem
naiven Beschauer eine Mauer bilden.
Von diesem Standpunkt aus (welcher leider meistens der einzig mög-
liche ist) ist die Kunstkritik der schlimmste Feind der Kunst.
35
Der ideale Kunstkritiker wäre also nicht der Kritiker, welcher die
»Fehler»1, «Verirrungen», «Unkenntnisse», «Entlehnungen» undsoweiter
zu entdecken suchen würde, sondern der, welcher %u fühlen suchen
würde, wie diese oder jene Form innerlich wirkt und dann sein Gesamt-
erlebnis dem Publikum ausdrucksvoll mitteilen würde.
Hier würde natürlich der Kritiker eine Dichterseele brauchen, da
der Dichter objektiv fühlen muß, um subjektiv sein Gefühl zu ver-
körpern. Das heißt der Kritiker würde eine schöpferische Kraft be-
sitzen müssen. In Wirklichkeit sind aber die Kritiker sehr oft miß-
lungene Künstler, die am Mangel eigener schöpferischer Kraft
scheitern und deshalb sich berufen fühlen, die fremde schöpferische
Kraft zu lenken.
Die Formfrage ist für die Künstler oft schädlich auch darum, weil
unbegabte Menschen (das heißt Menschen, die keinen inneren Trieb
zur Kunst haben), sich der fremden Formen bedienend, Werke vor-
täuschen und dadurch eine Verwirrung verursachen.
Hier muß ich präzis sein. Eine fremde Form zu gebrauchen heißt
in der Kritik, im Publikum und oft bei den Künstlern ein Verbrechen,
ein Betrug. Das ist aber in Wirklichkeit nur dann der Fall, wenn
der «Künstler» diese fremden Formen ohne innere Notwendigkeit
braucht und dadurch ein lebloses, totes Scheinwerk schafft. Wenn aber
der Künstler zum Ausdruck seiner inneren Regungen und Erleb-
nisse sich einer oder der andern «fremden» Form, der inneren Wahr-
1 Zum Beispiel «anatomische Fehler», «Verzeichnungen» und der-
gleichen oder später Verstöße gegen den kommenden «General-
baß».
36
heit entsprechend, bedient, so übt er sein Recht aus, sich jeder ihm
innerlich nötigen Form zu bedienen -sei es ein Gebrauchsgegenstand, ein
Himmelskörper oder eine durch einen andern Künstler schon künst-
lerisch materialisierte Form.
Diese ganze Frage der «Nachahmung»1 hat auch lange nicht die Be-
deutung, die ihr wieder durch die Kritik beigemessen wird.2 Das
Lebende bleibt. Das Tote verschwindet.
Und wirklich: je weiter wir unsern Blick zur Vergangenheit wenden,
desto weniger finden wir Vortäuschungen, Scheinwerke. Sie sind
geheimnisvoll verschwunden. Nur die echten künstlerischen Wesen
bleiben, das heißt die, die in dem Körper (Form) eine Seele (Inhalt)
besitzen.
Wenn der Leser weiter jeden beliebigen Gegenstand auf seinem
Tisch anschaut (sei es nur ein Zigarrenstummel), so wird er sofort
dieselben zwei Wirkungen bemerken. Es sei wo und wann es will
(in der Straße, Kirche, im Himmel, Wasser, im Stall oder Wald),
überall werden die zwei Wirkungen sich herausstellen und über-
all wird der innere Klang vom äußeren Sinn unabhängig sein.
1 Wie phantastisch die Kritik auf diesem Gebiete ist, weiß jeder
Künstler. Die Kritik weiß, daß die tollsten Behauptungen gerade
hier vollkommen straflos angewendet werden können. Zum Bei-
spiel vor kurzem wurde die Negerin von Eugen Kahler, eine gute
naturalistische Atelierstudie, mit Gauguin verglichen. Die
einzige Veranlassung zu diesem Vergleich konnte nur die braune
Haut des Modells sein (siehe Münchner Neueste Nachrichten, 12. Ok-
tober 1911) undsoweiter.
2 Und dank der herrschenden Überschätzung dieser Frage wird
der Künstler unbestraft diskreditiert.
37
Die Welt klingt. Sie ist ein Kosmos der geistig wirkenden Wesen. So ist die
tote Materie lebender Geist.
Wenn wir aus der selbständigen Wirkung des inneren Klanges die
uns hier nötige Folge ziehen, so sehen wir, daß dieser innere Klang
an Stärke gewinnt, wenn der ihn unterdrückende äußere praktisch-
zweckmäßige Sinn entfernt wird. Hier liegt die eine Erklärung der
ausgesprochenen Wirkung einer Kinderzeichnung auf den unpartei-
ischen, untraditionellen Beschauer. Das Praktisch-Zweckmäßige ist
dem Kind fremd, da es jedes Ding mit ungewohnten Augen an-
schaut und noch die ungetrübte Fähigkeit besitzt, das Ding als
solches aufzunehmen. Das Praktisch-Zweckmäßige wird erst später
durch viele, oft traurige Erfahrungen langsam kennengelernt. So
entblößt sich in jeder Kinderzeichnung ohne Ausnahme der innere
Klang des Gegenstandes von selbst. Die Erwachsenen, besonders die
Lehrer bemühen sich, dem Kinde das Praktisch-Zweckmäßige auf-
zudrängen und kritisieren dem Kinde seine Zeichnung gerade von
diesem flachen Standpunkt aus : «dein Mensch kann nicht gehen, weil
er nur ein Bein hat», «auf deinem Stuhl kann man nicht sitzen, da er
schief ist» undsoweiter.1 Das Kind lacht sich selbst aus. Es sollte aber
weinen. Nun hat das begabte Kind außer der Fähigkeit, das Äußere zu
streichen, noch die Macht, das gebliebene Innere in eine Form zu
kleiden, in welcher dieses gebliebene Innere am stärksten zum Vorschein
kommt und also wirkt (wie man auch zu sagen pflegt «spricht»!).
1 Wie es so oft der Fall ist: man belehrt die, die belehren sollten.
Und später wundert man sich, daß aus den begabten Kindern
nichts wird.
38
Jede Form ist vielseitig. Man entdeckt an ihr immer und immer
andere glückliche Eigenschaften. Hier will ich aber nur eine augen-
blicklich uns wichtige Seite der guten Kinderzeichnung betonen: die
kompositioneile. Hier springt uns ins Auge die unbewußte, wie von
selbst gewachsene Anwendung der beiden oben erwähnten Teile
des Buchstabens, das heißt 1. die Gesamterscheinung, die sehr oft
präzis ist und hier und da bis ins Schematische steigt, und 2. die
einzelnen, die große Form bildenden Formen, von denen jede ein
eigenes Leben führt. (So zum Beispiel die «Araber» von Lydia
Wieber.) Es ist eine unbewußte, enorme Kraft im Kinde, die sich
hier äußert und die das Kinderwerk dem Werke des Erwachsenen
gleicfrhoch (und oft viel höher!) stellt.1
Für jedes Glühen gibt es ein Abkühlen. Für jede frühe Knospe - der
drohende Frost. Für jedes junge Talent - eine Akademie. Es sind
keine tragischen Worte, sondern eine traurige Tatsache. Die Akade-
mie ist das sicherste Mittel, der beschriebenen Kindeskraft den Garaus
zu machen. Sogar das sehr große, starke Talent wird in dieser Be-
ziehung von der Akademie mehr oder weniger gebremst. Die schwä-
cheren Begabungen gehen zu Hunderten zugrunde. Ein akademisch
gebildeter, mittelmäßig begabter Mensch zeichnet sich dadurch aus,
daß er das Praktisch-Zweckmäßige erlernt hat und daß er das Hören
des inneren Klanges verloren hat. So ein Mensch liefert eine «kor-
rekte» Zeichnung, die tot ist.
1 Auch diese verblüffende Eigenschaft der kompositioneilen Form
besitzt die «Volkskunst». (Siehe zum Beispiel das Pest-Votivbild
aus der Kirche in Murnau.)
39
Wenn ein Mensch, welcher keine künstlerische Bildung erworben
hat und also von den objektiven künstlerischen Kenntnissen frei ist,
irgend etwas malt, so entsteht nie ein leerer Schein. Hier sehen wir
ein Beispiel des Wirkens der inneren Kraft, die nur von den allgemeinen
Kenntnissen des Praktisch- Zweckmäßigen beeinflußt wird.
Da aber die Anwendung auch dieses Allgemeinen hier nur beschränkt
geschehen kann, so wird das Äußere auch hier (nur weniger als bei
dem Kinde, aber doch ausgiebig) gestrichen und der innere Klang
gewinnt an Kraft : es entsteht keine tote Sache, sondern eine lebende.
Christus sagte: Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist
das Himmelreich.
Der Künstler, der sein ganzes Leben in vielem dem Kinde gleicht,
kann oft leichter als ein anderer zu dem inneren Klang der Dinge
gelangen. Es ist in dieser Beziehung ganz besonders interessant zu
sehen, wie der Komponist Arnold Schönberg die malerischen Mittel
einfach und sicher anwendet. Ihn interessiert in der Regel nur dieser
innere Klang. Alle Ausschmückungen und Feinschmeckereien läßt er
ohne Beachtung und die «ärmste» Form wird in seinen Händen die
reichste. (Siehe sein Selbstporträt.)
Hier liegt die Wurzel der neuen großen Realistik. Die vollkommen
und ausschließlich einfach gegebene äußere Hülse des Dinges ist
schon eine Absonderung des Dinges vom Praktisch-Zweckmäßigen
und das Herausklingen des Inneren. Henri Rousseau, der als Vater
dieser Realistik zu bezeichnen ist, hat mit einer einfachen und über-
zeugenden Geste den Weg gezeigt.
Henri Rousseau hat den neuen Möglichkeiten der Einfachheit den
40
Weg eröffnet. Dieser Wert seiner vielseitigen Begabung ist uns
augenblicklich der wichtigste.
Die Gegenstände oder der Gegenstand (das heißt er und die ihn
bildenden Teile) müssen in irgendeinem Zusammenhang stehen.
Dieser Zusammenhang kann auffallend harmonisch sein oder auf-
fallend disharmonisch. Es kann hier eine schematisierte Rhythmik
angewendet werden, oder eine versteckte.
Der unaufhaltsame Drang von heute, das rein Kompositionelle zu
offenbaren, die künftigen Gesetze unserer großen Epoche zu ent-
schleiern ist die Kraft, die die Künstler auf verschiedenen Wegen zu
einem Ziele zu streben zwingt.
Es ist natürlich, daß der Mensch sich in einem solchen Falle an das
Regelmäßigste und zugleich Abstrakteste wendet. So sehen wir, daß
durch verschiedene Kunstperioden das Dreieck als Konstruktions-
basis gebraucht wurde. Dieses Dreieck wurde oft als ein gleichseitiges
angewendet, und so kam auch die Zahl zu ihrer Bedeutung, das
heißt das ganz abstrakte Element des Dreiecks. In dem heutigen
Suchen nach abstrakten Verhältnissen spielt die Zahl eine besonders
große Rolle. Jede Zahlformel ist wie ein eisiger Berggipfel kühl und
als höchste Regelmäßigkeit wie ein Marmorblock fest. Sie ist kalt
und fest, wie jede Notwendigkeit. Das Suchen, in einer Formel das
Kompositionelle auszudrücken, ist der Grund des Entstehens des
sogenannten Kubismus. Diese «mathematische» Konstruktion ist
eine Form, die manchmal bis zum letzten Grade der Vernichtung des
materiellen Zusammenhanges der Teile des Dinges führen muß
und in konsequenter Anwendung führt. (Zum Beispiel Picasso.)
41
Das letzte Ziel auch auf diesem Wege ist, ein Bild zu schaffen, das
durch eigene, schematisch konstruierte Organe zum Leben gebracht
wird, zum Wesen wird. Wenn diesem Wege im allgemeinen etwas
vorgeworfen werden kann, so ist es nicht anders, als daß hier eine zu
begrenzte Anwendung der Zahl ist. Es kann alles als eine mathe-
matische Formel oder einfach als eine Zahl dargestellt werden.
Es gibt aber verschiedene Zahlen : 1 und 0,3333 .... sind gleich
berechtigte, gleich lebende innerlich klingende Wesen. Warum soll
man sich mit 1 begnügen ? Warum soll man 0,333 .... ausschließen?
Damit verbunden stellt sich die Frage: warum soll man durch aus-
schließliche Anwendung von Dreiecken und ähnlichen geometrischen
Formen und Körpern den künstlerischen Ausdruck schmälern? Es
soll aber wiederholt werden, daß die kompositioneilen Bestrebungen
der «Kubisten» in einem direkten Zusammenhang stehen zu der Not-
wendigkeit, rein malerische Wesen zu schaffen, die einerseits im Gegen-
ständlichen und durch das Gegenständliche reden und durch verschie-
dene Kombinationen mit dem mehr oder weniger klingenden Gegen-
stand andererseits schließlich zur reinen Abstraktion übergehen.
Zwischen der rein abstrakten und der rein realen Komposition lie-
gen die Kombinationsmöglichkeiten der abstrakten und realen Ele-
mente in einem Bilde. Diese Kombinationsmöglichkeiten sind groß
und mannigfaltig. In allen Fällen kann das Leben des Werkes stark
pulsieren und sich also zur Formfrage frei verhalten.
Die Kombinationen des Abstrakten mit dem Gegenständlichen, die
Wahl zwischen den unendlichen abstrakten Formen oder im gegen-
ständlichen Material, das heißt die Wahl der einzelnen Mittel auf beiden
42
Gebieten, ist und bleibt dem inneren Wunsch des Künsders über-
lassen. Die heute verpönte oder verachtete Form, die scheinbar ganz
abseits vom großen Strom liegt, wartet nur auf ihren Meister. Diese
Form ist nicht tot, sie ist bloß in eine Art Lethargie versunken.
Wenn der Inhalt, der Geist, welcher sich nur durch diese scheintote
Form offenbaren kann, reif wird, wenn die Stunde seiner Materialisa-
tion geschlagen hat, so tritt er in diese Form ;und wird durch sie
sprechen.
Und speziell der Laie sollte nicht mit der Frage an das Werk gehen :
«was hat der Künsder nicht gemacht?» oder anders gesagt: «wo
erlaubt sich der Künsder, meine Wünsche zu vernachlässigen?»,
sondern sollte sich fragen: «was hat der Künsder gemacht?» oder:
«welchen seinen inneren Wunsch hat hier der Künsder zum Aus-
druck gebracht?». Ich glaube auch, daß die Zeit noch kommen wird,
wo auch die Kritik ihre Aufgabe nicht im Suchen des Negativen,
Fehlerhaften, sondern im Suchen und Vermitteln des Positiven, Rich-
tigen finden wird. Eine der «wichtigen» Sorgen der heutigen Kritik
der abstrakten Kunst gegenüber ist die Sorge, wie soll man denn
in dieser Kunst das Falsche vom Richtigen unterscheiden, das heißt
größtenteils, wie soll man hier das Negative entdecken ? Das Ver-
halten beim Kunstwerk gegenüber sollte ein anderes sein, als das
Verhalten zu einem Pferd, welches man kaufen will : bei dem Pferd deckt
eine wichtige negative Eigenschaft alle die positiven und macht es
wertlos ; beim Werk ist das Verhältnis umgekehrt : eine wichtige positive
Eigenschaft deckt alle die negativen und macht es wertvoll.
Wenn dieser einfache Gedanke einmal berücksichtigt wird, so wer-
43
den von selbst die prinzipiell-absoluten Formfragen fallen, die Form-
frage wird ihren relativen Wert erhalten, und unter anderem wird end-
lich dem Künstler selbst die Wahl der Form überlassen, welche ihm
und in diesem Werk notwendig ist.
Später kann der Leser mit dem Künstler zu objektiven Betrachtungen,
zur wissenschaftlichen Analyse übergehen. Hier findet er dann, daß
sämtliche möglichen Beispiele einem inneren Rufe gehorchen - Kom-
position, daß sie alle auf einer inneren Basis stehen - Konstruktion.
Der innere Inhalt des Werkes kann entweder einem oder dem anderen
von zwei Vorgängen gehören, die heute (ob nur heute? oder heute
nur besonders sichtbar?) alle Nebenbewegungen in sich auflösen.
Diese zwei Vorgänge sind :
1. Das Zersetzen des seelenlos-materiellen Lebens des 19. Jahr-
hunderts, das heißt das Fallen der für einzig feste gehaltenen Stützen
des Materiellen, das Zerfallen und Sichauflösen der einzelnen Teile.
2. Das Aufbauen des seelisch-geistigen Lebens des 20. Jahrhunderts,
welches wir miterleben und welches sich schon jetzt in starken, aus-
drucksvollen und bestimmten Formen manifestiert und verkörpert.
Diese zwei Vorgänge sind die zwei Seiten der «heutigen Bewegung».
Die schon erzielten Erscheinungen zu qualifizieren oder auch nur
das Endziel dieser Bewegung festzustellen, wäre eine Anmaßung, die
durch verlorene Freiheit sofort grausam bestraft würde.
Wie schon oft gesagt, nicht zur Beschränkung sollen wir streben,
sondern zur Befreiung. Nichts soll man verwerfen ohne angestrengte
Versuche, Lebendes zu entdecken.
Es ist besser, den Tod für das Leben zu halten, als das Leben für den
44
Tod. Wenn auch nur ein einziges Mal. Und nur auf einer freigewor-
denen Stelle kann wieder etwas wachsen. Der Freie sucht sich durch
alles zu bereichern und von jedem Wesen das Leben auf sich wirken
zu lassen - wenn es auch nur ein abgebranntes Zündholz ist.
Nur durch Freiheit kann das Kommende empfangen werden.
Und man bleibt nicht abseits stehen, wie der dürre Baum, unter dem
Christus das schon bereitliegende Schwert sah.
45
w
Über Bühnenkomposition
«Über Bühnenkomposition» erschien 1912 in der Publikation Der
Blaue Reiter. Hier sehen wir Kandinsky in seiner ersten Auseinander-
setzung mit dem, was er später «synthetische Kunst» nannte und wo-
runter er vor allem die Synthese der Künste auf der Bühne verstand :
Literatur, Tanz, Bühnenbild. Vor allem das Licht und die bewegten
Formen auf der Bühne beschäftigten ihn sehr. Er schrieb 2 Bühnen-
stücke. Der gelbe Klang war im Anschluß an nachstehenden Aufsatz
im Blauen Reiter abgedruckt. In den Zwanzigerjahren schrieb er
Violett. Leider nur ein einziges Mal war es Kandinsky vergönnt,
ein Bühnenstück in Szene zu setzen, nämlich Bilder einer Ausstellung
von Mussorgsky, worüber er sich 1928 schriftlich äußerte.
Jede Kunst hat eine eigene Sprache, das heißt die nur ihr eigenen
Mittel. So ist jede Kunst etwas in sich Geschlossenes. Jede Kunst ist
ein eigenes Leben. Sie ist ein Reich für sich.
Deswegen sind die Mittel verschiedener Künste äußerlich voll-
kommen verschieden. Klang, Farbe, Wort ! . . .
Im letzten innerlichen Grunde sind diese Mittel vollkommen gleich : das
letzte Ziel löscht die äußeren Verschiedenheiten und entblößt die
innere Identität.
Dieses letzte 2Äz\ (Erkenntnis) wird in der menschlichen Seele er-
reicht durch feinere Vibrationen derselben. Diese feineren Vibra-
tionen, die im letzten Ziele identisch sind, haben aber an und für sich
verschiedene innere Bewegungen und unterscheiden sich dadurch
voneinander.
Der undefinierbare und doch bestimmte Seelenvorgang (Vibration)
ist das Ziel der einzelnen Kunstmittel.
Ein bestimmter Komplex der Vibrationen - das Ziel eines Werkes.
47
Die durch das Summieren bestimmter Komplexe vor sich gehende
Verfeinerung der Seele - das Ziel der Kunst.
Die Kunst ist deswegen unentbehrlich und zweckmäßig.
Das vom Künstler richtig gefundene Mittel ist eine materielle Form
seiner Seelenvibration, welcher einen Ausdruck zu finden er ge-
zwungen ist.
Wenn dieses Mittel richtig ist, so verursacht es eine beinahe identische
Vibration in der Seele des Empfängers.
Das ist unvermeidlich. Nur ist diese zweite Vibration kompliziert. Sie
kann erstens stark oder schwach sein, was von dem Grad der Ent-
wicklung des Empfängers und auch von zeitlichen Einflüssen (ab-
sorbierte Seele) abhängt. Zweitens wird diese Vibration der Seele
des Empfängers entsprechend auch andere Saiten der Seele in Schwin-
gung bringen. Das ist die Anregung der «Phantasie» des Empfängers,
welcher am Werke «weiterschafft». *
Die öfter vibrierenden Saiten der Seele werden beinahe bei jeder Be-
rührung auch anderer Saiten mitklingen. Und manchmal so stark,
daß sie den ursprünglichen Klang übertönen: es gibt Menschen, die
durch «lustige» Musik zum Weinen gebracht werden und umgekehrt.
Deswegen werden einzelne Wirkungen eines Werkes bei verschie-
denen Empfängern mehr oder weniger gefärbt.
1 Heutzutage rechnen besonders Theaterinszenierungen auf diese
«Mitwirkung», welche natürlich stets vom Künstler gebraucht
wurde. Daher stammte auch das Verlangen nach einem gewissen
freien Raum, welcher das Werk vom letzten Grade des Ausdrucks
trennen mußte.
Dieses Nicht-bis-zuletzt-sagen verlangten zum Beispiel Lessing und
Delacroix. Dieser Raum ist das freie Feld für die Arbeit der Phantasie.
48
Der ursprüngliche Klang wird aber in diesem Falle nicht vernichtet,
sondern lebt weiter und verrichtet, wenn auch unmerklich, seine
Arbeit an der Seele.1
Es gibt also keinen Menschen, welcher die Kunst nicht empfängt.
Jedes Werk und jedes einzelne Mittel des Werkes verursacht in
jedem Menschen ohne Ausnahme eine Vibration, die im Grunde der
des Künstlers identisch ist.
Die innere, im letzten Grunde entdeckbare Identität der einzelnen
Mittel verschiedener Künste ist der Boden gewesen, auf welchem
versucht wurde, einen bestimmten Klang einer Kunst durch den
identischen Klang einer anderen Kunst zu unterstützen, zu stärken
und dadurch eine besonders gewaltige Wirkung zu erzielen. Das ist
ein Wirkungsmittel.
Die Wiederholung aber des einen Mittels einer Kunst (zum Beispiel
Musik) durch ein identisches Mittel einer anderen Kunst (zum Bei-
spiel Malerei) ist nur ein Fall, eine Möglichkeit.
Wenn diese Möglichkeit auch als ein inneres Mittel verwendet wird
(zum Beispiel bei Skrjabin)2, so finden wir auf dem Gebiete des
Gegensatzes und der komplizierten Komposition erst einen Anti-
poden dieser Wiederholung und später eine Reihe von Möglichkeiten,
die zwischen der Mit- und Gegenwirkung liegen. Das ist ein un-
erschöpfliches Material.
Das 19. Jahrhundert zeichnete sich als eine Zeit aus, welcher innere
1 So wird mit der Zeit jedes Werk richtig «verstanden».
2 Siehe den Artikel I., Sabanejews, in diesem Buch.
49
Schöpfung fern lag. Das Konzentrieren auf materielle Erscheinungen
und auf die materielle Seite der Erscheinungen mußte die schöpferische
Kraft auf dem Gebiete des Inneren logisch zum Sinken bringen, was
scheinbar bis zum letzten Grad des Versinkens führte.
Aus dieser Einseitigkeit mußten sich natürlich auch andere Einseitig-
keiten entwickeln.
So auch auf der Bühne.
1. kam auch hier (wie auf anderen Gebieten) notgedrungen die
minuziöse Ausarbeitung der einzelnen schon existierenden (früher
geschaffenen) Teile, die der Bequemlichkeit halber stark und definitiv
voneinander getrennt wurden. Hier spiegelte sich die Spezialisierung
ab, die immer sofort entsteht, wenn keine neuen Formen geschaffen
werden und
2. der positive Charakter des Zeitgeistes konnte nur zu einer Form
der Kombinierung führen, die ebenso positiv war. Man dachte eben:
zwei ist mehr als eins, und suchte jede Wirkung durch Wiederholung
zu verstärken. In der inneren Wirkung kann es aber umgekehrt sein
und oft ist eins mehr als zwei. Mathematisch ist 1+1 =2. Seelisch
kann 1 — 1 = 2 sein.
ad. 1. Durch die erste Folge des Materialismus ; das heißt durch die
Spezialisierung und die damit verbundene weitere äußerliche Aus-
arbeitung der einzelnen Teile, entstanden und versteinerten sich drei
Gruppen von Bühnenwerken, die voneinander durch hohe Mauern
abgeteilt wurden : a) Drama,
b) Oper,
c) Ballett.
50
a) Das Drama des 19. Jahrhunderts ist im allgemeinen eine mehr
oder weniger raffinierte und in die Tiefen gehende Erzählung eines
Vorganges von mehr oder weniger persönlichem Charakter. Es ist
gewöhnlich eine Beschreibung des äußeren Lebens, wo das seelische
Leben des Menschen auch nur soweit mitspielt, als es mit dem
äußeren Leben zu tun hat.1
Das kosmische Element fehlt vollkom??ien.
Der äußere Vorgang und der äußere Zusammenhang der Handlung ist die
Form des heutigen Dramas.
b) Die Oper ist ein Drama, zu welchem Musik als Hauptelement hin-
zugefügt wird, wobei Raffiniertheit und Vertiefung des dramatischen
Teiles stark leiden. Die beiden Teile sind vollkommen äußerlich mit-
einander verbunden. Das heißt entweder illustriert (beziehungsweise
verstärkt) die Musik den dramatischen Vorgang oder der dramatische
Vorgang wird als Erklärung der Musik zu Hilfe gezogen.
Dieser wunde Punkt wurde von Wagner bemerkt, und er suchte ihm
durch verschiedene Mittel abzuhelfen. Der Grundgedanke war dabei,
die einzelnen Teile organisch miteinander zu verbinden und auf diese
Weise ein monumentales Werk zu schaffen.2
1 Ausnahmen finden wir wenige. Und auch diese wenigen (zum
Beispiel Maeterlink, Ibsens «Gespenster», Andrejews «Das Leben
des Menschen» und dergleichen) bleiben doch im Banne des
äußeren Vorganges.
2 Dieser Gedanke Wagners hat über ein halbes Jahrhundert ge-
braucht, um über die Alpen zu gelangen, wo er eine offiziell aus-
gedrückte Paragraphengestalt erhält. Das musikalische «Manifest»
der «Futuristi» lautet: «Proclamer comme une necessite absolue
que le musicien soit l'auteur du poeme dramatique ou tragique
qu'il doit mettre en musique». (Mai 1911, Mailand.)
51
Durch Wiederholung einer und derselben äußeren Bewegung in
zwei Substanzformen suchte Wagner die Verstärkung der Mittel
zu erreichen und die Wirkung zu einer monumentalen Höhe zu
bringen. Sein Fehler war in diesem Falle der Gedanke, daß er über
ein Universalmittel verfügte. Dieses Mittel ist in Wirklichkeit nur
eines aus der Reihe von oft gewaltigeren Möglichkeiten in der monu-
mentalen Kunst.
Abgesehen aber davon, daß eine parallele Wiederholung nur ein
Mittel ist, und davon, daß diese Wiederholung nur äußerlich ist, hat
Wagner ihr eine neue Gestaltung gegeben, die zu weiteren führen
mußte. Vor Wagner hat zum Beispiel die Bewegung einen rein
äußerlichen und oberflächlichen Sinn in der Oper gehabt (vielleicht
nur Entartung). Es war ein naives Anhängsel der Oper: das An-die-
Brust-drücken der Hände - Liebe, das Heben der Arme - Gebet,
das Ausbreiten der Arme - starke Gemütsbewegung und dergleichen.
Diese kindlichen Formen (die man noch heute jeden Abend sehen
kann) standen in äußerlichem Zusammenhang mit dem Text der
Oper, der wieder durch die Musik illustriert wurde. Wagner hat hier
eine direkte (künstlerische) Verbindung zwischen der Bewegung und
dem musikalischen Takt geschaffen: die Bewegung wurde dem Takt
unterordnet.
Diese Verbindung ist aber doch nur äußerlicher Natur. Der innere
Klang der Bewegung bleibt aus dem Spiel.
Auf dieselbe künstlerische, aber auch äußerliche Weise wurde bei
Wagner andererseits die Musik dem Text unterordnet, das heißt der
Bewegung in breitem Sinne. Es wurde musikalisch das Zischen des
52
glühenden Eisens im Wasser, das Schlagen des Hammers beim
Schmieden und dergleichen dargestellt.
Diese wechselnde Unterordnung ist aber auch wieder eine Bereicherung
der Mittel gewesen, die zu weiteren Kombinationen führen mußte.
Also einerseits bereicherte Wagner die Wirkung eines Mittels und
verminderte andererseits den inneren Sinn - die rein künstlerische
innere Bedeutung des Hilfsmittels.
Diese Formen sind nur mechanische Reproduktionen (nicht innere
Mitwirkungen) der zweckmäßigen Vorgänge der Handlung. Ähn-
licher Natur ist auch die andere Verbindung der Musik mit Bewegung
(im breiten Sinne des Wortes), das heißt die musikalische «Charak-
teristik» der einzelnen Rollen. Dieses hartnäckige Auftauchen eines
musikalischen Satzes bei dem Erscheinen eines Helden verliert
schließlich an Kraft und wirkt auf das Ohr wie eine altbekannte
Flaschenetikette auf das Auge. Das Gefühl sträubt sich schließlich
gegen derartige konsequent programmatische Anwendungen einer
und derselben Form.1
Endlich : Das Wort braucht Wagner als Mittel der Erzählung oder zum
Ausdruck seiner Gedanken. Es wurde hier aber kein geeignetes Milieu
für solche Zwecke geschaffen, da in der Regel die Worte vom Or-
chester übertönt werden. Es ist kein genügendes Mittel, in vielen
Rezitativen das Wort klingen zu lassen. Aber der Versuch, das unauf hör-
1 Dieses Programmatische durchdringt das Schaffen Wagners und
erklärt sich scheinbar nicht nur aus dem Charakter des Künstlers,
sondern auch aus dem Bestreben, eine präzise Form zu dem neuen
Schaffen zu finden, wobei der Geist des 19. Jahrhunderts seinen
Stempel des «Positiven» darauf abdrückte.
54
liehe Singen zu unterbrechen, versetzte dem «Einheitlichen» schon einen
gewaltigen Stoß. Doch der äußere Vorgang blieb auch davon unberührt.
Abgesehen davon, daß Wagner trotz seinen Bestrebungen, einen
Text (Bewegung) zu schaffen, hier vollkommen in der alten Tradition
des Äußerlichen blieb, ließ er das dritte Element ohne Beachtung,
welches heute in einer noch primitiven Form vereinzelt angewendet
wird1 - die Farbe und die damit verbundene malerische Form
(Dekoration).
Der äußere Vorgangs der äußere Zusammenhang der einzelnen Teile desselben
und der beiden Mittel (Drama und Musik) ist die Form der heutigen Oper.
c) das Ballett ist ein Drama mit allen schon beschriebenen Kenn-
zeichen und demselben Inhalt. Nur verliert sich hier der Ernst des
Dramas noch mehr, als in der Oper. In der Oper kommen außer
Liebe auch andere Themen vor: religiöse, politische, soziale Ver-
hältnisse sind der Boden, auf welchem Begeisterung, Verzweiflung,
Ehrlichkeit, Haß und gleichartige andere Gefühle wachsen. Das
Ballett begnügt sich mit Liebe in einer kindlichen Märchenform.
Außer Musik werden hier die einzelnen und Gruppenbewegungen zu
Hilfe genommen. Alles bleibt in einer naiven Form des äußerlichen
Zusammenhanges. Es werden sogar in der Praxis nach Belieben
einzelne Tänze eingeschoben oder ausgelassen. Das «Ganze» ist so
problematisch, daß solche Operationen vollkommen unbemerkt bleiben.
Der äußere Vorgangs der äußere Zusammenhang der einzelnen Teile und
der drei Mittel (Drama, Musik und Tan%) ist die Form des heutigen Balletts.
1 Siehe den Artikel Sabanejews.
55
ad. 2. Durch die ^weite Folge des Materialismus, das heißt durch die
positive Addierung (1 + 1 = 2, 2 + 1 = 3), wurde nur eine Kom-
binierungs- (beziehungsweise Verstärkungs-) form gebraucht, die
ein Parallellaufen der Mittel verlangte. Zum Beispiel starke Gemüts-
bewegung bekommt sofort ein ff. als unterstrichenes Element in der
Musik. Dieses mathematische Prinzip baut auch die Wirkungsformen auf
einer rein äußerlichen Basis auf.
All die genannten Formen, die ich Substanzformen nenne (Drama -
Wort, Oper - Klang, Ballett - Bewegung), und ebenso die Kom-
binationen der einzelnen Mittel, die ich Wirkungsmittel nenne,
werden zu einer äußerlichen Einheit konstruiert. Da alle diese Formen
aus dem Prinzip der äußeren Notwendigkeit entstanden.
Daraus fließt als logisches Resultat die Begrenzung, die Einseitigkeit
(= die Verarmung) der Formen und Mittel. Sie werden allmählich
orthodox und jede minuziöse Änderung erscheint revolutionär.
Stellen wir uns auf den Boden des Innerlichen. Die ganze Sachlage
verändert sich wesentlich.
1. Es verschwindet plötzlich der äußere Schein jedes Elementes.
Und sein innerer Wert bekommt vollen Klang.
2. Es wird klar, daß bei Anwendung des inneren Klanges der äußere
Vorgang nicht nur nebensächlich sein kann, sondern als Verdunk-
lung schädlich.
3. Es erscheint der Wert des äußeren Zusammenhangs im richtigen
Licht, das heißt als unnötig beschränkend und die innere Wirkung
abschwächend.
56
4. Es kommt von selbst das Gefühl der Notwendigkeit der inneren
Einheitlichkeit, die durch äußere Uneinheitlichkeit unterstützt und
sogar gebildet wird.
5. Es entblößt sich die Möglichkeit, jedem der Elemente das eigene
äußere Leben zu behalten, welches äußerlich im Widerspruch zum
äußeren Leben eines anderen Elementes steht.
Wenn wir weiter aus diesen abstrakten Entdeckungen praktische
schaffen, so sehen wir, daß es möglich ist,
ad. 1. nur den inneren Klang eines Elementes als Mittel zu nehmen,
ad. 2. den äußeren Vorgang (= Handlung) zu streichen,
ad. 3. wodurch der äußere Zusammenhang von selbst fällt ebenso wie
ad. 4. die äußere Einheitlichkeit und
ad. 5. daß die innere Einheitlichkeit eine unzählige Reihe von Mitteln
in die Hand gibt, die früher nicht da sein konnten.
Hier wird also %ur einzigen Quelle die innere Notwendigkeit.
Die kleine Bühnenkomposition Der gelbe Klang ist ein Versuch, aus
dieser Quelle zu schöpfen. Es sind hier drei Elemente, die zu äußeren
Mitteln im inneren Werte dienen:
1. musikalischer Ton und seine Bewegung,
2. körperlich-seelischer Klang und seine Bewegung durch Menschen
und Gegenstände ausgedrückt,
3. farbiger Ton und seine Bewegung (eine spezielle Bühnenmöglich-
keit).
So besteht hier schließlich das Drama aus dem Komplex der inneren
Erlebnisse (Seelenvibrationen) des Zuschauers.
58
ad.l. Von der Oper wurde das Hauptelement - die Musik als
Quelle der inneren Klänge - genommen, die in keiner Weise äußer-
lich dem Vorgang untergeordnet sein muß.
ad. 2. Aus dem Ballett wurde der Tanz genommen, welcher als ab-
strakt wirkende Bewegung mit innerem Klang gebracht wird,
ad. 3. Der farbige Ton bekommt eine selbständige Bedeutung und
wird als gleichberechtigtes Mittel behandelt.
Alle drei Elemente spielen eine gleich wichtige Rolle, bleiben äußer-
lich selbständig und werden gleich behandelt, das heißt dem inneren
Ziele unterordnet.
Es kann also zum Beispiel die Musik vollkommen zurückgeschoben
oder in den Hintergrund geschoben werden, wenn die Wirkung zum
Beispiel der Bewegung ausdrucksvoll genug ist und durch starke
musikalische Mitwirkung geschwächt werden könnte. Dem Wachsen
der Bewegung in der Musik kann ein Abnehmen der Bewegung im
Tanz entsprechen, wodurch beide Bewegungen (positive und nega-
tive) größeren inneren Wert bekommen. Eine Reihe von Kombi-
nationen, die zwischen den zwei Polen liegen: Mitwirkung und
Gegenwirkung. Graphisch gedacht können die drei Elemente voll-
kommen eigene, voneinander äußerlich unabhängige Wege laufen.
Das Wort als solches oder in Sätze gebunden kann angewendet wer-
den, um eine gewisse «Stimmung» zu bilden, die den Seelenboden
befreit und empfänglich macht. Der Klang der menschlichen Stimme
kann auch rein angewendet werden, das heißt ohne Verdunkelung
desselben durch das Wort, durch den Sinn des Wortes.
59
&>
Die Grundelemente der Form
«Die Grundelemente der Form» erschien im Buch Staatliches Bau-
haus in Weimar 1919-23, im Bauhaus- Verlag, Weimar-München,
herausgegeben vom Staatlichen Bauhaus in Weimar und Karl
Nierendorf in Köln. Kandinsky war 1922 von Walter Gropius als
Meister an das Staatliche Bauhaus in Weimar berufen worden und
hatte sich in der Folge in die dort zu leistende pädagogische Arbeit
eingefügt. Die Abhandlung zeigt Kandinskys Auseinandersetzung
mit den Zielen, die sich das Bauhaus zu eigen gemacht hatte.
Die Arbeit im Bauhaus unterliegt im allgemeinen der endlich begin-
nenden Einheit verschiedener Gebiete, die noch kürzlich als streng
voneinander getrennte aufgefaßt wurden.
Diese neuerdings zueinander strebenden Gebiete sind: Kunst über-
haupt, in erster Linie die sogenannte bildende Kunst (Architektur,
Malerei, Plastik), Wissenschaß (Mathematik, Physik, Chemie, Physio-
logie undsoweiter) und Industrie, als technische Möglichkeiten und
wirtschaftliche Faktoren.
Die Arbeit im Bauhaus ist eine synthetische. Die synthetische Methode
schließt in sich selbstverständlich die analytische ein. Der Zusammen-
hang der beiden Methoden ist unumgänglich.
Auf dieser Basis muß auch die Lehre über die Grundelemente der
Form gebaut werden.
Die Formfrage im allgemeinen muß in zwei Teile geteilt werden:
1 . Die Form im engeren Sinne - Fläche und Raum.
2. Die Form im breiteren Sinne - Farbe und die Beziehung zur
Form im engeren Sinne.
In beiden Fällen müssen die Arbeiten von einfachsten Gestalten zu
komplizierteren planmäßig übergehen.
61
So wird im ersten Teil der Formfrage die Fläche auf drei Grund-
elemente zurückgeführt - Dreieck, Quadrat und Kreis - und der
Raum zu den daraus entstehenden Raumgrundelementen - Pyramide,
Kubus und Kugel.
Da keine Fläche und kein Raum farblos existieren können, das heißt
da die Form im engeren Sinne in Wirklichkeit sofort als Form im
breiteren Sinne untersucht werden muß, so kann die Teilung der
beiden Formfragen lediglich schematisch betrieben werden und
andererseits muß von vornherein die organische Beziehung der
beiden Teile festgestellt werden — Beziehung Form zur Farbe und
umgekehrt.
Die erst entstehende Kunstwissenschaft kann in dieser Fragestellung
fast keine Aufklärungen in der kunstgeschichtlichen Perspektive
geben und deshalb muß vorläufig der bezeichnete Weg erst geebnet
werden.
So steht jedes einzelne Studium vor zwei gleich wichtigen Aufgaben :
1. Die Analyse der gegebenen Erscheinung, die von den anderen
Erscheinungen möglichst isoliert betrachtet sein muß, und
2. der Zusammenhang der erst isoliert untersuchten Erscheinungen
untereinander - synthetische Methode.
Das erste möglichst eng und beschränkt, das zweite möglichst breit
und schrankenlos.
62
bu
Farbkurs und Seminar
«Farbkurs und Seminar» erschien im Buch Staatliches Bauhaus in
Weimar 1919-23, im Bauhaus -Verlag, Weimar-München, heraus-
gegeben vom Staatlichen Bauhaus in Weimar und Karl Nieren-
dorf in Köln. Die hier von Kandinsky dargestellten Gedanken
sind entstanden im Zusammenhang mit den von ihm am Bauhaus
seit 1922 begonnenen Vorlesungen über die Grundelemente der
Form, dem Kurs über die Farblehre und dem daran angegliederten
Seminar.
Die Farbe muß wie jede andere Erscheinung von verschiedenen
Standpunkten in verschiedenen Richtungen und mit den entspre-
chenden Methoden untersucht werden. Rein wissenschaftlich ver-
teilen sich diese Richtungen in drei Gebiete: das der Physik und
Chemie, der Physiologie und der Psychologie.1 Wenn diese Gebiete
speziell in bezug auf den Menschen und vom Standpunkte des Men-
schen angewendet werden, so behandelt das erste Gebiet das Wesen
der Farbe, das zweite - die Mittel der äußeren Aufnahme, das dritte
- das Resultat der inneren Wirkung.
Es ist also klar, daß für den Künstler diese drei Gebiete gleich wichtig
und unumgänglich sind. Er muß hier synthetisch vorgehen und die
gegebenen Methoden seinen Zielen entsprechend brauchen.
Aber außerdem kann der Künstler die Farbe theoretisch in zwei
Richtungen untersuchen, wobei sein Standpunkt und seine Eigen-
schaften die erwähnten drei Gebiete ergänzen und bereichern müssen.
1 Eine spezielle Frage von besonderer Wichtigkeit bilden die sozio-
logischen Zusammenhänge, die aber außer dem Kreis der Farb-
frage als solcher stehen und deshalb ein spezielles Studium ver-
langen.
64
Diese zwei Richtungen sind:
1. Das Untersuchen der Farbe - Wesen der Farbe ^ ihre Eigenschaften,
Kräfte und Wirkungen - ohne Bezug auf praktische Anwendung,
das heißt «zwecklose» Wissenschaft, und
2. das Untersuchen der Farbe in der von der praktischen Notwendigkeit
diktierten Richtung - engerer Zweck - und planmäßiges Studium
der Farbe, das aber große eigene Aufgaben stellt.
Die beiden Richtungen sind für den Künstler fest miteinander ver-
bunden und die zweite ohne die erste nicht denkbar. Die Methode
dieser Arbeiten muß analytisch und synthetisch sein. Die beiden
Methoden sind miteinander fest verbunden und die zweite ohne die
erste nicht denkbar. Diesen Methoden werden drei Hauptfragen ge-
stellt, die mit drei weiteren Hauptfragen organisch verbunden sind
und die zusammen die sämtlichen einzelnen Fragen der beiden Rich-
tungen umfassen:
1. Die Untersuchung der Farbe als solcher - ihres Wesens und ihrer
Eigenschaften :
a) isolierte Farbe
\ absoluter und relativer Wert.
b) zusammengestellte Farbe J
Hier wird mit möglichst abstrakter Farbe angefangen (die Farbe in
der Vorstellung) und über die in der Natur vorkommenden Farben -
mit Spektralfarben anfangend - zu Farbe in Pigmentform über-
gegangen.
2. Die zweckmäßige Zusammenstellung der Farben im einheitlichen
Aufbau - Konstruktion der Farbe - und
3. das Unterordnen der Farbe - als eines einzelnen Elementes - und
65
der zweckmäßigen Zusammenstellungen - als Konstruktion - dem
künstlerischen Inhalt des Werkes '- Komposition der Farbe. Diesen
drei Fragen entsprechen also drei Fragen, die aus der Formfrage
im engeren Sinne entstehen - in Realität kann die Farbe ohne Form
nicht existieren:
1. Organische Zusammenstellung der isolierten Farbe mit der ihr
entsprechenden primären Form - malerische Elemente.
2. Zweckmäßiger Aufbau der Farbe und Form - Konstruktion der
vollen Form, und
3. untergeordnetes Zusammenstellen der beiden Elemente im Sinne
der Komposition des Werkes.
Da im Bauhaus die Farbe mit den Zielen verschiedener Werkstätten
verbunden ist, so müssen aus der Lösung der Hauptfragen Lö-
sungen einzelner spezieller Fragen herausgeleitet werden. Hier sind
folgende Bedingungen zu berücksichtigen:
1. Die Forderungen der Flächen- und der Raumformen.
2. Eigenschaften des gegebenen Materials.
3. Praktische Bestimmung des gegebenen Gegenstandes und der
konkreten Aufgabe.
Hier müssen gesetzmäßige Zusammenhänge gefunden werden. Die
einzelnen Verwendungen der Farbe verlangen ein spezielles Studium :
des organischen Bestandes der Farbe, ihrer Lebenskraft und ihrer
Lebensdauer, der Möglichkeiten des Bindens durch Bindemittel -
dem konkreten Fall entsprechend -, der damit natürlich verbun-
denen Technik, der Art des Auftrages der Farbe - dem gegebenen
Zweck und dem Material entsprechend -, der Zusammenstellung
66
des Farbenpigmentes mit anderen farbigen Materialien wie Stuck,
Holz, Glas, Metall undso weiter.
Diese Arbeiten müssen mit möglichst exakten Mitteln, speziell Aus-
messungen geführt werden. Sie sind mit exakten Versuchen ver-
bunden - experimentales Vorgehen -, die von möglichst einfachen
Formen zu immer komplizierteren planmäßig übergehen. Auch diese
Versuche müssen die analytische und die synthetische Methode
verwenden: zweckmäßiges Zerlegen der gegebenen Formen und
plan- und zweckmäßiger Aufbau.
Diese ganze kunstwissenschaftliche Arbeit geschieht durch:
1. Die leitenden Vorträge des Meisters.
2. Die Vorträge der Schüler, als Resultat ihrer selbständigen Lösung
einer speziellen Aufgabe.
3. Die gemeinschaftliche Arbeit des Meisters und der Schüler am
planmäßig verlegten Material - gemeinschaftliche Beobachtungen,
Schlüsse, Aufstellen der einzelnen Aufgaben, Prüfung der Lösungen
und Entwicklung des weiteren Arbeitsvorganges (Seminar).
Ein besonderer Wert wird auf die architektonischen Forderungen
gelegt: Das Innere, das Äußere der Architektur, die also in dieser
Richtung als synthetische Basis aufgefaßt werden muß.
67
Über die abstrakte Bühnensynthese
«Über die abstrakte Bühnensynthese» erschien im Buch Staatliches
Bauhaus in Weimar 1919-23, im Bauhaus- Verlag, Weimar-München,
herausgegeben vom Staatlichen Bauhaus in Weimar und Karl
Nierendorf in Köln. Kandinsky formuliert hier in abschließender
Form seine Konzeption für eine Bühnensynthese, die er 11 Jahre
vorher im Blauen Reiter schon vorgezeichnet hatte.
Im Theater ist ein sonderbarer Magnet mit einer sonderbaren ver-
borgenen Kraft eingeschlossen. Nicht selten gewann dieser Magnet
größere Spannungen der Anziehungskraft, die scheinbar zu größeren
spannenden Mitwirkungen bringen konnten.
Aber dem Aufschwung folgte der Niedergang und es bildete sich
eine feste, kalte Kruste über das innere Wesen des Theaters. Gerade
heute ist diese Kruste so stark, dick und kalt geworden, daß die pul-
sierende Kraft scheinbar für alle Zeiten erstarrte.
Es dürfte heute eher als je vom Niedergang des Theaters gesprochen
werden. Nicht umsonst wird ihm der gleichgültige Rücken gekehrt
und das erwartende Gesicht wird nicht umsonst dem Variete, dem
Zirkus, dem Kabarett, dem Kino zugewendet. Die alten Theater-
formen - Drama, Oper, Ballett - sind zu Museumsformen ver-
härtet und nur im Sinne des Museums können sie wirken. Das übrige
ist ihnen verloren gegangen.
Und trotzdem ist der heutige Tag die Schwelle des neuen Auf-
schwunges, der in der keimenden und kommenden Größe alle frühe-
ren Höhen weit überragen wird.
Der verborgene Magnet wird lebendig und sein Pulsieren wird
69
immer mehr hörbar. Von außen kommen neu gespitzte Kräfte zu
Hilfe, die berufen sind, die harte Kruste zu sprengen.
Das Gebäude (Architektur), das nicht anders wie farbig sein kann
(Malerei) und jeden Augenblick geteilte Räumlichkeiten (Plastik)
zusammenzuschmelzen vermag, saugt durch die geöffneten Türen
Menschenströme in sich und ordnet sie in schematische strenge
Reihen.
Alle Augen in einer Richtung, alle Ohren zu einer Quelle. Höchste
Empfangsspannung, die hier entladen werden sollte. Das ist die äußere
Möglichkeit des Theaters, die auf die neue Gestaltung wartet.
In dieser abgesonderten Welt der Spannung ist eine andere abgeson-
derte Welt, zu der die Augen und Ohren gerichtet sind - die Bühne.
Hier ist das versprechende Zentrum des Theaters, das durch höchste
Spannung eigenen Lebens die höchste Spannung der harrenden
Reihen entladen sollte.
Die aufsaugende Fähigkeit dieses Zentrums ist grenzenlos - sie
vermittelt durch die höchsten Spannungen die sämtlichen Kräfte der
sämtlichen Künste der harrenden Reihen. Das ist die innere Möglich-
keit des Theaters, die auf die neue Gestaltung wartet.
Die sämtlichen einzelnen heutigen Künste vertiefen sich seit Jahr-
zehnten in eigene Kräfte. Sie zerlegen rücksichtslos die eigenen
Mittel bis an die letzte Grenze und prüfen diese Mittel unbewußt
oder bewußt auf der inneren Waage.
Das ist die Periode der großen Analyse, die von großer Synthese
laut redet. Das Zerlegen soll dem Zusammenlegen dienen, der
Abbau - dem Aufbau.
70
So sieht heute die «große Welt» aus und die in ihr lebenden kleinen
Welten spiegeln genau ihre Schicksale ab. Dieses Schicksal soll das
Theater teilen.
Jede Kunst hat eine eigene Sprache und die ihr allein geeigneten
Mittel - der abstrakte innere Klang ihrer Elemente. In diesem
abstrakten inneren Klang ist keine dieser Sprachen durch eine
andere zu ersetzen. So ist jede abstrakte Kunst von allen anderen
grundsätzlich verschieden. Darin liegt die Stärke des Theaters.
Der im Theater verborgene Magnet hat die Kraft, alle diese Sprachen
an sich zu ziehen, alle Mittel der Künste, die gemeinsam die größte
Möglichkeit der monumentalen abstrakten Kunst bieten.
Bühne :
1. Raum und Räumlichkeit - Mittel der Architektur - der Boden,
auf dem jede Kunst zu ihrem Wort kommen kann, damit gemein-
same Sätze entstehen,
2. die vom Objekt unabtrennbare Farbe - Mittel der Malerei - in
ihrer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung, ganz besonders in der
Form des farbigen Lichtes,
3. die einzelnen räumlichen Ausdehnungen - Mittel der ^Plastik -
mit den positiven und negativen Luftgestaltungen,
4. der organisierte Klang - Mittel der Musik - mit den zeitlichen
und räumlichen Ausdehnungen,
5. die organisierte Bewegung - Mittel des Tanges - zeitliche, räum-
liche, abstrakte Bewegungen nicht des Menschen allein, sondern des
Raumes, der abstrakten Formen, die eigenen Gesetzen unterliegen;
6. endlich die letzte uns bekannte Kunst, die ihre abstrakten Mittel
71
noch nicht entblößt hat - die Dichtung - stellt das menschliche Wort
in der zeitlichen und räumlichen Ausdehnung zur Verfügung.
Wie die Plastik in der Architektur teilweise aufgeht, so geht die
Dichtung in der Musik teilweise auf. Also streng genommen ist die
reine abstrakte Form des Theaters die Summe der abstrakten Klänge:
1 . der Malerei - Farbe,
2. der Musik - Klang,
3. des Tanzes - Bewegung,
im gemeinsamen Klange der architektonischen Gestaltung. Hier fängt
die abstrakte Bühne an, die zu reinen Formen der abstrakten Bühnen-
komposition werden kann und bald wird, und für die die analytische
Periode der gesamten Künste eine unumgängliche Vorstufe ist.
Die Künste, die ein eigenes Leben weiterführen werden, wofür
ebenso wichtig und unumgänglich die analytische Periode ist, werden
der Bühne rein synthetisch dienen können. In diesem Falle verzichten
sie auf eigene Ziele, um dem Gesetz der Bühnenkomposition zu
unterliegen, die den anderen Künsten gleich zur neuen Praxis nur
mit Hilfe der Kunsttheorie kommen kann. Die Methoden der Kunst-
wissenschaft, der einzelnen Künste und der synthetischen Theaterkunst
bleiben dieselben, das heißt sie muß drei Hauptfragen umfassen:
Speziell auf der Bühne :
1. Elemente der Bühne und ihre inneren Kräfte - Grundelemente,
Hilfselemente undsoweiter, das heißt genaue systematische Prüfung
der abstrakten Werte.
2. Das Gesetz des Aufbaues - Konstruktion der Bühnenelemente, die
ebenso rein wissenschaftliche experimentale Arbeiten voraussetzen.
72
3. Das Gesetz der Unterordnungen der Elemente und der Kon-
struktion dem inneren Ziele des Werkes - Komposition. Es sollen
Theaterlaboratorien veranstaltet werden, wo einzelne Elemente im
Sinne und zum Zweck des Theaters geprüft werden sollen. Schema-
tischer Aufbau der einzelnen Teile soll die Kräfte und Mittel der
Konstruktion entdecken und abwägen, wobei das Gesetz des Gegen-
satzes im Sinne des Mit- und Auseinandergehens in erster Linie
verwendet sein soll - Farbe, Klang, Bewegung in daraus entstehen-
den Zusammenhängen und zeitlichen Zusammenwirkungen.
Dem schöpferischen Geist werden diese Vorarbeiten zum Schaffen
des lebenden Werkes als Werkzeuge dienen.
73
Tanzkurven
In «Tanzkurven», einem 1926 im Kunstblatt erschienenen Essay,
weist Kandinsky auf eine Möglichkeit der Bühnensynthese hin.
Die Tänzerin Gret Palucca hatte, ursprünglich von Mary Wieg-
mann ausgehend, eine Tanzform geschaffen, bei der vollständige
akrobatische Beherrschung des körperlichen Ausdrucks und be-
wußte Raumwirkung einer einzelnen Figur auf der Bühne neue
Wege wiesen. Gret Palucca tanzte im Laufe der Zwanzigerjahre
mehrmals auf der Bauhaus-Bühne.
Zu den Tänzen der Palucca.
Die vollkommene Meisterschaft ist ohne Exaktheit unmöglich. Die
Exaktheit ist das Resultat langer Arbeit. Die Anlage zur Exaktheit
ist aber angeboren und eine überaus wichtige Bedingung der großen
Begabung.
Paluccas Tanz ist vielseitig und kann von verschiedenen Stand-
punkten beleuchtet werden. Was ich aber hier unterstreichen möchte ,
ist der selten genaue Aufbau nicht bloß des Tanzes in der zeitlichen
Entwicklung, sondern in erster Linie der exakte Aufbau einzelner
Momente, die durch Momentaufnahmen fixiert werden.
Einige Beispiele bringen zwei wichtige Charakterzüge dieses Auf-
baues :
1 . die Einfachheit der ganzen Form und
2. das Aufbauen auf der großen Form.
Es mag für den Laien einfach klingen - der Künstler weiß aber
diese Eigenschaften zu schätzen: die einfache und große Form wird
nur wenigen gegeben.
75
Nichts kann besser meine Behauptung beweisen, als die Übersetzung
der drei Momentaufnahmen in grafische Schemata.
Die Exaktheit reißt auch die Falten und Zipfel der Kleidung mit.
Auch die «tote Materie» unterordnet sich dem großen Aufbau.
76
Die Momentaufnahme bietet abgerissene starre Formen, die einmal
der Anfang einer Entwicklung ist, einmal der Schlußpunkt. Das
organische langsame Entstehen der Form, die Übergangsstadien
bleiben aus und können nur durch Zeitlupe erreicht werden, die das
Feld der Beobachtungen in einer überraschenden Weise erweitert.
Der Tanz Paluccas sollte unbedingt mit Zeitlupe aufgenommen werden,
wodurch eine exakte Prüfung dieses exakten Tanzes ermöglicht
würde.
Ich möchte nicht mißverstanden werden - ich habe hier nur eine
Seite der Kunst Paluccas beleuchtet. Aber gerade diese eine Seite ist
gerade heute von einer besonderen Wichtigkeit : wir stehen unter dem
Zeichen einer aufgehenden Kunstwissenschaft. Ich hoffe mit Sicher-
heit, daß Palucca auch auf diesem Gebiet Wertvolles beitragen wird.
77
Der Wert des theoretischen Unterrichts in der Malerei
«Der Wert des theoretischen Unterrichts in der Malerei» entstand
1926 für No 1 der Zeitschrift baubaus, herausgegeben in Dessau
von Walter Gropius und Ladislaus Moholy-Nagy. Kandinsky setzt
sich hier vor allem mit dem «Unterricht» in der Malerei auseinander,
so wie er um jene Zeit am Bauhaus aufgefaßt wurde. In der Gruppe
2 stellt Kandinsky dar, was er darunter versteht: Malerei als zen-
traler Ausgangspunkt, aber mit der Möglichkeit, ihre Grenzen zu
überschreiten. Gewissermaßen Malerei als «Allgemeinbildung».
Beim Unterricht in der Malerei können verschiedene Methoden ver-
verwendet werden, wobei aber diese Methoden in zwei große Gruppen
geteilt bleiben :
1. die Malerei wird als Selbstzweck behandelt, das heißt der Stu-
dierende wird zum Maler ausgebildet: er bekommt auf der Schule
die dazu notwendigen Kenntnisse - soweit es durch den Unter-
richt zu erreichen ist - und braucht nicht unbedingt die Grenzen
der Malerei zu überschreiten, oder
2. die Malerei wird als eine mitorganisierende Kraft behandelt, das
heißt der Studierende wird über die Grenzen der Malerei, aber durch
ihre Gesetzmäßigkeit zum synthetischen Werk geleitet.
Dieser zweite Standpunkt bildet die Grundlage des malerischen
Unterrichts im Bauhause. Auch hier können natürlich verschiedene
Methoden verwendet werden. Was speziell meine Richtlinie anlangt,
so muß meiner Meinung nach folgendes als Hauptzweck und schließ-
lich als Endzweck diese Richtlinie lenken:
1. Analyse der malerischen Elemente in ihrem äußeren und inneren
Wert,
79
2. Beziehungen dieser Elemente zu denjenigen der anderen Künste
und der Natur,
3. Aufbau der malerischen Elemente in thematischer Form (Lö-
sungen thematischer planmäßiger Aufgaben) und im Werk,
4. Beziehungen dieses Aufbaues zu anderen Künsten und zur Natur,
5. Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit.
Ich muß mich hier mit dieser allgemeinen Richtungsangabe begnügen,
da die Einzelheiten nicht in den Raum einer Zeitung passen. Aber
auch dieses kurze Schema zeigt, wohin ich hinaus will. Es hat tat-
sächlich bis jetzt kein planmäßiges analytisches Denken in Kunst-
fragen gegeben, und analytisch denken können heißt logisch denken
können. Es wäre hier nicht angebracht, über die Kunstschulen aus-
führlicher zu sprechen, die zum Zweck die Malerei als solche haben,
das heißt wo sie Selbstzweck ist, obwohl ich allmählich zur Über-
zeugung kam, daß auch in dieser Art Schulen der frühere Weg der
sehr knappen wissenschaftlichen «Beigabe» in Form von Anatomie,
Perspektive und Kunstgeschichte weiter nicht mehr gangbar ist:
auch die «reine» Kunst bedarf heute einer exakteren, konsequenten
wissenschaftlichen Grundlage. Das einseitige Betonen des intuitiven
Elementes und die damit verbundene «Zwecklosigkeit» der Kunst
haben öfters den jungen Künstler (und wenn es nur der «junge»
Künstler wäre!) zu ungeschickten, von der Kunst ablenkenden Fol-
gerungen gebracht. Als Beispiel aus der heutigen Zeit würde die
«neue Sachlichkeit» genügen, die der Kunst «politische» Zwecke zu
stellen versucht - die Verwirrung hat ihr höchstes Maß erreicht.
Der junge und besonders der anfangende Künstler muß von vorn-
80
herein an ein objektives, das heißt wissenschaftliches Denken ge-
wöhnt werden. Er soll verstehen, seinen Weg abseits der «Ismen» zu
suchen, die in der Regel nicht zum Kern streben, sondern schnell
vergängliche Einzelheiten für Grundfragen halten. Die Fähigkeit,
sich zu fremden Werken objektiv zu stellen, schließt die eigene Ein-
seitigkeit in eigener Arbeit nicht aus, was natürlich und vollkommen
gesund ist: im eigenen Werk darf (vielmehr «muß») der Künsder
einseitig sein, da die Objektivität in diesem Falle zu innerer Ver-
schwommenheit führen könnte. Er soll in eigener Arbeit nicht nur
einseitig, sondern fanatisch sein: zum entwickelten Fanatismus gehö-
ren aber viele Jahre gewaltiger innerer Spannung.
Durch Vertiefung in die Elemente, welche die Bausteine der Kunst
sind, bekommt der Studierende - außer der Fähigkeit des logischen
Denkens - die notwendige innere Fühlung zu den Kunstmitteln.
Diese einfache Behauptung darf nicht unterschätzt werden : die Mit-
tel werden durch den Zweck bestimmt - so wird der Zweck durch
die Mittel verstanden. Die innere, vertiefte Bestimmung der Mittel
und der gleichzeitig unbewußte und bewußte Verkehr mit den Mit-
teln verwerfen die der Kunst fremden Zwecke, die dadurch un-
natürlich und abstoßend wirken. Hier dient also tatsächlich das Mit-
tel dem Zweck.
Das Sich verwandtfühlen mit den Elementen einer Kunst steigt weiter
in seiner Intensität bei dem Studium der Beziehungen dieser Ele-
mente zu denjenigen anderer Künste, was ohne weiteres klar ist.
Die Beziehungen der Kunstelemente überhaupt zu denjenigen der
Natur bringen die ganze Frage auf eine noch breitere philosophische
81
Basis, was ebenso ohne weiteres klar ist. So geht der Weg vom Syn-
thetischen in der Kunst zum Allgemein- Synthetischen über. Wenn
man heute wirklich nicht weiß, was eigentlich unter dem Begriff
«Bildung», «Gebildetsein» verborgen ist oder sein sollte, so darf
doch mit vollem Recht behauptet werden, daß nicht eine kleinere
oder größere Anhäufung von speziellen Kenntnissen (sogenannte
«Fachkenntnisse») hier die Hauptrolle spielen oder den Hauptbe-
standteil ausmachen, sondern die ausgebildete Fähigkeit, das schein-
bar zerrissene Bild der Einzelerscheinungen in den organischen
Zusammenhängen zu empfinden und schließlich zu «verstehen».
Und andererseits : das Fehlen dieser Fähigkeit darf trotz dem Vor-
handensein von «enzyklopädischen Fachkenntnissen» als Merkmal
des ungebildeten Menschen angesehen werden.
Und endlich: eine Schule, die dem Studierenden das planmäßige
Erkennen der allgemeinen Basis zu übermitteln nicht imstande ist,
darf sich nicht «Schule» nennen - ganz besonders, wenn sie als
Hochschule angesehen werden möchte.
Ganz abgesehen vom prinzipiell unbestreitbaren Wert der «Bildung»
im ungefälschten Sinne wäre diese Schulbildung ein gewaltiges
Mittel gegen die extreme Spezialisierung, die wir aus dem vergangenen
Jahrhundert übernommen haben, und die nicht nur aus allgemein-
philosophischen, sondern auch aus rein praktischen Gründen zu
bekämpfen ist. In der Praxis ist die extreme Spezialisierung eine
dicke Mauer, die uns vom synthetischen Schaffen trennt. Ich darf
wohl hoffen, daß ich manche, heute allgemein bekannte Tatsachen
nicht zu beweisen brauche: zum Beispiel die Gesetzmäßigkeit des
82
o
&c
malerischen Aufbaues. Und trotzdem ist die prinzipielle Anerkennung
dieser Tatsache für den Studierenden nicht ausreichend - sie muß
in sein Inneres eingepflanzt werden und zwar so gründlich, daß sie in
seine Fingerspitzen von selbst eindringt: der bescheidene oder ge-
waltigste «Traum» des Künstlers hat an und für sich keinen Wert -
solange die Fingerspitzen nicht imstande sind, dem «Diktat» dieses
Traumes mit höchster Präzision zu folgen. Für diesen Zweck müssen
mit dem theoretischen Unterricht praktische (thematische) Übungen
verbunden werden : was nützt ein herrliches Kochbuch ohne Lebens-
mittel und Kochtöpfe? Und: nur ein wiederholtes Verbrennen
eigener Fingerspitzen bringt den Anfänger vorwärts. Die Gesetz-
mäßigkeit in der Natur ist lebendig, da sie das Statische und das
Dynamische in sich vereinigt und in dieser Beziehung ist sie der Ge-
setzmäßigkeit in der Kunst gleichwertig. Also außer der philoso-
phisch-bildenden Wichtigkeit für jeden Menschen ist die Erkenntnis
der Naturgesetzmäßigkeit für den Künstler unumgänglich. Diese
einfache Tatsache bleibt aber den Kunsthochschulen leider voll-
kommen fremd.
Folgendes Schema soll den knappen Sinn dieses kurzen Artikels in
sich aufnehmen :
84
Mittel
1. Analyse der malerischen
Elemente,
2. Beziehungen zu anderen
Künsten und zur Natur,
3. Aufbau der malerischen
Elemente in thematischer
Form und im Werk,
4. Beziehungen zu anderen
Künsten und zur Natur,
5. Gesetzmäßigkeit und
Zweckmäßigkeit,
Zweck
analytisches (allgemein-logisches)
Denken.
synthetisches Denken. Fähigkeit
das Getrennte zu vereinigen,
theoretische und praktische Ge-
setzmäßigkeit und relativer Wert
derselben in der Praxis,
synthetisches Schaffen und Werk
und das Erkennen des schöpfe-
rischen Prinzips in der Natur und
innere Verwandtschaft derselben
mit der Kunst.
Ausbildung der «Fingerspitzen»
und Ausbildung des Menschen.
Es ist klar, daß außer der Malerei auch andere Künste diesem päd-
agogischen Ziele dienen könnten. Es ist aber ebenso klar, daß im
Bauhause gerade die Malerei die geeignetste Erzieherin sein soll:
1. die Farbe und ihre Verwendung finden in den sämtlichen Werk-
stätten Platz, wo also die beschriebene Methode auch rein praktischen
Zwecken dient, und
2. die Malerei ist diejenige Kunst, die seit Jahrzehnten an der Spitze
der sämtlichen Kunstbewegungen voranging und die anderen
Künste - speziell die Architektur - befruchtete.
85
(U
und
«und» erschien in der internationalen Zeitschrift HO No 1/1 1927,
in Amsterdam. Der Untertitel «Einiges über synthetische Kunst»
weist auf das Problem hin, das Kandinsky sich stellte. Eben war er
60 Jahre alt geworden und stand wieder, wie um 1912, nach Er-
scheinen von über das Geistige in der Kunst und Der Blaue Reiter,
inmitten der Kunstdiskussion. Sein neues Buch Punkt und Linie ?u
Fläche war eben erschienen. Das «und» hatte für Kandinsky einen
speziellen Sinn. Er stellte es jeweils dem «entweder-oder» ent-
gegen. So auch hier. Der Entscheidung «entweder-oder» setzte
er das synthetische «und» entgegen.
Es ist kein reiner Zufall, daß die Jahrhunderte sich manchmal scharf
voneinander unterscheiden.
Als das 20. Jahrhundert in Sicht war und die Frage aufgeworfen
wurde, wann es eigentlich als begonnen angesehen sein darf, als das
19. Jahrhundert die letzten Jahre vor sich hatte, hörte das bereits
scharfe Ohr ein immer deutlicher werdendes «unterirdisches» Don-
nern.
Es nahte die «Umwälzung».
Aber die Oberfläche war ruhig, unbewegt, erstarrt.
Fast das ganze 19. Jahrhundert war eine mehr oder weniger ruhige
Arbeit am Ordnen.
Das Ordnen geschah auf der Basis der Absonderung, Zerteilung.
Zur selben Zeit ist die Spezialisierung Ursache und Folge geworden.
Die Spezialisierung führte zur Ordnung. Die Ordnung - zur Spe-
zialisierung.
Die Spezialisierung wurde seit den ersten Fortschritten der Maschine
von Nationalökonomen zum Ideal der Arbeitsordnung und der nor-
87
malen Produktion gemacht: minimale Anstrengung und maximales
Resultat. Jeder Arbeiter - manuell oder geistig - wurde zu äußerster
Spezialisierung getrieben und wurde das, was man noch heute der
«Fachmann» nennt.
Ein viel komplizierteres Schema würde die Wissenschaft abgeben.
Das Prinzip bleibt aber das gleiche - der Astronom hatte ebenso-
wenig für Sanskrit übrig, wie ein Musiker für Plastik. Auf dieser
Basis wurden Hochschulen allermöglicher Arten aufgebaut, die sehr
durchgebildete Spezialisten und vollkommen ungebildete Menschen
herstellten. Und heute herstellen.
Obwohl der «unterirdische» Donner im Anfang des 20. Jahrhunderts
die erstarrte Oberfläche durchbohrte, sie in vielen Stellen aufriß und
sich in verschiedensten «Katastrophen» materialisierte, die noch heute
die sämtlichen Gebiete des «Lebens» bedrohen, erschüttern oder ver-
nichten, bleibt die beschriebene «Ordnung» in voller Kraft.
Die Spezialisierung verlangt nach einer Wahl, nach Zerteilung und
Absonderung. Auch der heutige Mensch steht noch unter dem
Zeichen entweder-oder.
Diese zwei Worte reichen zur erschöpfenden Charakteristik des
19. Jahrhunderts und wir haben sie in unsere Zeit als Prinzip über-
nommen. Beispiele dafür liefert jeder Tag auf allen Gebieten - sei
es Kunst, Politik, Religion, Wissenschaft undso weiter.
Von außen gesehen kann unsere Zeit im Gegensatz zur «Ordnung»
des letzten Jahrhunderts - ebenso mit einem Wort bezeichnet wer-
den - Chaos.
Die größten Widersprüche, die entgegengesetztesten Behauptungen,
88
das Negieren des Ganzen zu Gunsten des Einzelnen, Umwerfen des
Gewohnten und Versuche, das Umgeworfene sofort wieder aufzu-
richten, das Zusammenprallen der verschiedensten Ziele bilden eine
Atmosphäre, die den heutigen Menschen zum Verzweifeln und zu
einer scheinbar noch nie dagewesenen Verwirrung führt.
Der heutige Mensch wird fortwährend vor die rasche Wahl gestellt:
er soll unverzüglich eine Erscheinung bejahen und die andere ab-
lehnen - entweder-oder, wobei die beiden Erscheinungen als rein
äußere und ausschließlich äußerlich betrachtet werden. Darin liegt
die Tragik der Zeit. Neue Erscheinungen werden von der alten Basis
aus betrachtet und auf eine tote Art behandelt.1
So wie seinerzeit das feine Ohr in der Ordnungsruhe das Donnern
hörte, kann das scharfe Auge im Chaos eine andere Ordnung erraten.
Diese Ordnung verläßt die Basis «entweder-oder» und erreicht lang-
sam eine neue - und. Das 20. Jahrhundert steht unter dem Zei-
chen «und».
Dieses «und» ist aber nur die Folge. Die Ursache ist das langsam,
fast unsichtbar vorsichgehende Verlassen des früheren Bodens des
Äußeren (Form) und das Erreichen eines neuen Bodens des Inneren
(Inhalt).
1 Ein einfaches Beispiel ist das Gegenüberstellen der abstrakten
Kunst und der «Neuen Sachlichkeit». Der verzweifelte Kunst-
theoretiker muß sich zu einer von beiden bekehren und sie in
Schutz nehmen. Es ist kein Wunder, daß er manchmal in höchster
Verzweiflung, die er natürlich verbergen will, ausruft: «Weiß der
Himmel, wer schließlich Sieger bleibt!» Dieser Zustand wird sich
erst dann ändern, wenn die Formfrage als eine der Inhaltfrage unter-
ordnete angesehen wird.
89
Ich kann hier keine Beweise für meine Behauptung bringen, da es
über die Grenzen eines kurzen Artikels führen würde.
Ich glaube aber, daß ein aufmerksames Beobachten verschiedener
menschlicher Gebiete, eine geduldige Analyse verschiedener Zu-
sammenstöße und Bekämpfungen die fehlenden Beweise in Fülle
liefern wird.
Die innere Notwendigkeit muß manchmal große Umwege machen
um ihr Ziel zu erreichen. In der Malerei zum Beispiel ist die innere
Wertung des «Materials» erst nach einer langjährigen theoretischen
Arbeit an «technischen» Fragen möglich geworden.
Das genaueste Erkennen des Äußeren im Material ist nicht imstande,
die Kunstfragen über die Grenzen des «Technischen» zu setzen und
dient schließlich immer weiter der Absonderung, was selbstverständ-
lich die Annäherung unerreichbar macht.
Oder : das Erkennen des Äußeren kann nur in dem Falle eine Tür in
die Zukunft werden, wenn dieses Erkennen eine Brücke zum Inneren
schlägt. x
Von diesem Standpunkt der Umwege entschleiert sich der revo-
lutionäre Weg als ein Evolutionsvorgang. Glattes Fließen und Stöße
bilden in der historischen Perspektive gewöhnlich eine gerade Schnur.
Manchmal wird sie unsichtbar - dann erscheint sie zerrissen.
Zur Zeit der exklusiven Absonderung in der Kunst sind drei ver-
schiedene Reste der früheren synthetischen Kunst zu sehen :
1 Einen Versuch in dieser Richtung habe ich in meinem Buch
«Punkt und Linie zu Fläche» gemacht: die Analyse des Äußeren
der Form soll Wegweiser zu ihrem Inneren aufstellen.
90
1. die Kirche
2. das Theater
3. der Bau.
Im Bau ist das Zusammenhängen der drei bildenden Künste (Archi-
tektur, Malerei und Plastik) rein äußerlich geworden und entbehrt
jeder inneren Notwendigkeit - typisches 19. Jahrhundert.
In den beiden alten synthetischen Formen des Theaters - Oper und
Ballett - wurde auch im 19. Jahrhundert außer dem äußeren «Effekt»
auch das innere Wirken auf den Menschen gesucht, was die Bestre-
bungen Wagners in der Oper möglich machte.
Man kann es für ziemlich bewiesen halten, daß in der alten russischen
Kirche die sämtlichen Künste gleichmäßig und gleichberechtigt einem
Zweck dienten - Architektur, Malerei, Plastik, Musik, Dichtung
und Tanz (Bewegung der Geistlichen).1 Hier war die Absicht eine
rein innere - Gebet.
Dieses Beispiel ist besonders wichtig, da noch heute in verschiedenen
Ländern Versuche gemacht werden, Kirchen im alten Stil zu bauen,
was jedes Mal und ohne Ausnahme leblose Baugebilde zur Folge hat.
Die sehr verbreitete Ansicht, die «verlorene Formel» könnte diese
Mißerfolge beseitigen, ist oberflächlich. Jede richtige Formel ist an
sich nichts weiter, als der exakte, richtige Ausdruck einer bestimmten
1 Es wäre wichtig, verschiedene Religionen von diesem Stand-
punkt zu untersuchen. In Bezug auf russische Kirche hat in dieser
Richtung der Komponist Alexander Schenschin, Moskau, sehr
wertvolle Beobachtungen gemacht, die leider noch nicht ver-
öffentlicht sind. Es ist eine und dieselbe Formel in sämtlichen er-
wähnten Künsten gefunden worden.
91
Epoche. Also ist jede Epoche berufen und verpflichtet, eine ihr
entsprechende und sie zum Ausdruck bringende Formel neu zu
schaffen.
Schon vor mehreren Jahrzehnten zur Zeit der toten Friedhofsordnung
ist die Malerei das erste Gebiet gewesen, auf dem «unerwartete» und
«unverständliche» Explosionen «plötzlich» in einer immer tempera-
mentvolleren Folge vor sich gingen. Die Malerei suchte nach «neuen
Formen» und noch sehr wenige wissen, daß dies ein unbewußtes
Suchen nach dem neuen Inhalt war.
Diese Bestrebungen zogen sofort zwei wichtige Folgen nach sich:
1. das weitere Absondern der Malerei vom «Leben», die konsequente
Vertiefung in eigene Ziele, Ausdrucksmittel und Möglichkeiten und
2. gleichzeitig das natürliche und lebhafte Interesse für die Ziele,
Ausdrucksmittel und Möglichkeiten in anderen Künsten - zuerst in
der Musik.
Die erste Folge führte zur weiteren, aber besonders exakten theore-
tischen und praktischen Analyse, die heute zur malerischen Synthese
verhilft.
Die zweite Folge legte den Grundstein zum Aufbau der synthetischen
Kunst im allgemeinen. Hier sind lediglich Einzelfälle festzustellen.
Der erste Versuch, zwei Künste organisch für ein Werk zu vereinigen,
ist der Prometheus von Skrjabin - paralleles Laufen der musikalischen
und der malerischen Elemente. Der Zweck ist die Verstärkung der
Mittel zum Ausdruck.
So wurde zum ersten Mal eine im 19. Jahrhundert errichtete Mauer
zwischen zwei Künsten umgeworfen.
92
Dies geschah aber auf dem allgemeinen Gebiet der Kunst (siehe
III Teilung) und war der Anfang der Mauernzerstörung auf dem
von anderen Gebieten abgesonderten Kunstboden. Seitdem häufen
sich die weiteren, noch bis heute in Kinderschuhen steckenden Ver-
suche auf: Farbenorgel (England, Amerika, Deutschland), farbige
Lichtspiele mit Musik (Deutschland), abstrakte Filme mit Musik
(Frankreich, Deutschland).1
Ähnliche Erscheinungen treten im Tanz auf (Rußland, Deutschland,
Schweiz), der den bereits von der Malerei vor Jahrzehnten einge-
schlagenen Weg betrat und sich ebenso in zwei Richtungen ent-
wickelt :
1. der Tanz als Selbstzweck und
2. der Tanz als Einzelelement im Gesamtwerk - Tanz, Musik,
Malerei (Kostüm und Bühne).
Allerdings wird in solchen Werken der Tanz gewöhnlich als Haupt-
element betrachtet, dem die übrigen untergeordnet werden. Hier ist
aber noch eine andere Annäherung entstanden, die prinzipiell eine
große Bedeutung in der Mauererschütterung hat - der Tanz über-
nimmt Elemente der Akrobatik (Deutschland), was andererseits auch
im ganzen Theaterwesen immer häufiger vorkommt (Rußland). So
fallen Mauern zwischen Gebieten, die noch vor kurzem als voll-
kommen voneinander abgesondert und sogar teils feindlich zuein-
1 Ich habe vor Jahren einen Versuch gemacht, verschiedene Künste
in einem Werk zu verwenden, aber nicht im Prinzip der Parallele,
sondern des Gegensatzes - «Gelber Klang» in «Der blaue Reiter»,
Piper- Verlag München, 1912.
93
ander stehende aufgefaßt wurden: Theater, Kammersaal und Zirkus.1
Es soll hier im Vorübergehen bemerkt werden, daß die außerordent-
liche Anziehungskraft, welche die Malerei in den letzten Jahrzehnten
ausübte (in Paris leben noch heute an die 40 000 Maler, München
hatte vor dem Krieg eine Kunstakademie, eine Damenakademie und
über 40 Privatschulen), kein «Zufall» ist.
Die Natur ist verschwenderisch, wenn sie eine große Aufgabe vor
sich hat, und ihr Gesetz beherrscht nicht allein das materielle Leben,
sondern im selben Maße das geistige. Der Krieg oder die Kriege,
die Revolutionen im politischen Leben wurden auf dem Kunst-
gebiete Jahrzehnte vorher erlebt - in der Malerei. Die größten
Spannungen mußten sich unbedingt hier entwickeln, da die Malerei
außer ihren eigenen die bedeutungsvolle Aufgabe hatte, die sämt-
lichen Künste zu befruchten und ihre Entwicklung auf richtige
Bahnen zu leiten.
Vom Gebiete der Malerei gingen noch weitere Anregungen aus
und von hier aus wurden noch festere Mauern des vergangenen
Jahrhunderts erschüttert und teils bereits vernichtet. Diese Anre-
gungen verlassen den Boden der Kunst und greifen viel weiter um
sich herum.
Die fast providentiell festgelegten Unterschiede zwischen Kunst und
Wissenschaft (besonders der «positiven») werden konsequent unter-
1 Von spezifischer Bedeutung für unsere Zeit ist die entstandene
Wertung von Zirkus und Kino, die bis jetzt als niedere und ent-
artete Angelegenheiten betrachtet wurden, die nicht zu den Ge-
bieten der Kunst gerechnet werden durften.
94
sucht und es wird ohne besondere Mühe klar, daß die Methoden, das
Material und die Behandlung desselben keine wesentlichen Unter-
schiede auf beiden Gebieten aufweisen. Es entsteht die Möglichkeit
für den Künstler und für den Wissenschaftler gemeinsam an einer und
derselben Aufgabe zu arbeiten (Allrussische Akademie der Kunst-
wissenschaften, Moskau, gegründet 1921).
Zum Unterschied zu der ersten gefallenen Mauer (zwischen der
Musik und der Malerei - III Teilung) wird hier eine Mauer zer-
stört, die zwei noch viel weiter voneinander liegende Gebiete trennte
(siehe II Teilung).
Die analytische Arbeit auf jedem der beiden Gebiete wird zur syn-
thetischen Arbeit auf beiden. Es entsteht eine theoretische Synthese,
die der praktischen Synthese den Weg ebnet.
Denselben prinzipiellen Wert hat eine andere Anregung und die
darauffolgende Arbeit, die ebenso von der Malerei ausgingen - das Fal-
len der Mauer zwischen Kunst und Technik und die daraus folgende
Annäherung der beiden früher stark getrennten und, wie es allgemein
aufgefaßt wurde, der beiden zueinander feindlich stehenden Gebiete.
Die erste, aber sehr undeutliche Anregung dazu ist in den «plötzlich»
wieder lebendig gewordenen Kunstgewerbeschulen zu sehen, die in
verschiedenen Ländern noch vor dem Krieg ständig in der Anzahl
wuchsen (Deutschland, Österreich, Rußland).
Fast in demselben Jahr sind nach dem Krieg zwei neue Schulen
- voneinander unabhängig - entstanden, die sich zur Aufgabe
stellten, die Kunst mit dem Handwerk und schließlich mit der
Industrie zu verbinden :
95
1. Hohe Kunsttechnische Werkstätten in Moskau, 1918.
2. Staatliches Bauhaus in Weimar, 1919.
Im Gegensatz zu der üblichen Kunstgewerbeschule, die den Haupt-
platz der Kunst einräumt, und teils die Technik als ein unterordnetes und
manchmal störendes Element auffaßt, suchen die beiden erwähnten
Hochschulen, beide Elemente gleichwertig zu stellen und gleich-
berechtigt im Werk zu vereinigen. Es war eine natürliche Folge der
früheren Einstellung und eine natürliche Reaktion gegen dieselbe,
daß die erste Zeit die beiden Schulen die Kunst als Mitelement unter-
schätzten und das Hauptgewicht auf das Technische übertrugen.
Das war die übliche Wirkung des Pendelgesetzes.
Das Bauhaus (jetzt in Dessau) entwickelt sich immer weiter auf dem
Wege der ausgeglichenen Behandlung der beiden Faktoren und ist
anscheinend zur richtigen Lösung dieses schwierigen Problems ge-
langt.1
Dieses Beispiel einer wieder gefallenen Mauer ist prinzipiell das
wichtigste : das erste kam auf dem Gebiete der Kunst im allgemeinen
vor (III Teilung), das zweite - auf dem Gebiete des Geistigen im
allgemeinen (II Teilung), dieses dritte - vollzieht sich zwischen zwei
Gebieten, die vorher keine entfernteste Verwandtschaft kannten -
1 Im Laufe dieses letzten Sommers wurde im Bauhaus ein neuer
Studienplan ausgearbeitet, nach dem ein erweiterter Unterricht
ermöglicht wird: Kunst, Technik und Wissenschaft bilden die
Grundsteine - ausgeglichen und ineinander organisch greifend.
Der Studierende soll außer der fachmännischen eine möglichst er-
weiterte synthetische Bildung erhalten. Er soll im Ideal nicht nur
als neuer Spezialist, sondern auch als neuer Mensch ausgerüstet
werden.
96
das Gebiet der Materie und das des Geistes (I Teilung). Das Beseitigen
der Absonderung entwickelt sich logisch und die Verbindung («und»)
breitet sich auf die entferntesten Gebiete aus.1
Der enge Rahmen des kleinen Aufsat2es soll mir zur Entschuldigung
dienen, wenn ich das überaus wichtige Thema der synthetischen
Kunst so eng und zerrissen behandelt habe.
Mein Zweck war nur, die Masse dieses entscheidenden Problems an-
zudeuten, auf die allmenschliche Bedeutung der letzten Verschiebung
vom alten Boden zu einem neuen zu deuten, was weit über die Gren-
zen der Kunst geht und früher oder später auf jedem wichtigen
Gebiete der menschlichen Entwicklung geschehen wird.
Der Laie ist längst gewöhnt, die Kunst- und Wissenschaftsfragen als
ihm etwas Fremdes anzusehen, das außerhalb seines realen Lebens
steht und worum er sich nicht zu kümmern braucht.
Immer mehr verbreitet sich im «großen Publikum» die vielleicht nicht
ganz bewußte Ansicht, daß die Marktpreise und die Angelegenheiten
der politischen Parteien den seelischen Boden des menschlichen
Lebens bilden und daß alles außerhalb dieser Interessen Stehende
keinen wesentlichen Wert haben kann.
Diese Einstellung ist das organisch-natürliche Produkt der extremen
Spezialisierung und des allerdings verflachten Materialismus. Hier ist
kein Anfang, sondern nur ein Abschluß der Vergangenheit zu sehen.
Der Anfang besteht in der Erkenntnis der Zusammenhänge. Immer
mehr wird man sehen können, daß es keine «speziellen» Fragen gibt,
1 In der IV Teilung sind die Mauern dank der abstrakten Kunst
gefallen - keine Unterteilung, sondern Malerei als solche.
97
die isoliert erkannt oder gelöst werden können, da alles schließlich
ineinander greift und voneinander abhängig ist. Die Fortsetzung des
Anfangs ist: weitere Zusammenhänge zu entdecken und sie für die
wichtigste Aufgabe des Menschen auszunützen - für die Entwicklung.
Die Wurzeln der Einzelerscheinungen treffen sich in der Tiefe und
der zukünftige Mensch wird vielleicht bald alle diese Wurzeln zu
einer allgemeinen Wurzel zurückführen können.
Die Kunst kann in keiner geistig wertvollen Epoche außerhalb des
Lebens stehen. Sie kann sich in der Zeit der Vorbereitungen vom
«Leben» zurückziehen - sie konzentriert sich in eigenen Aufgaben,
damit sie wieder ihre wichtige Stelle in einer anfangenden geistigen
Epoche genügend ausgerüstet einnehmen kann.
Heute erlebt sie die letzten Konsequenzen der äußeren «Material-
periode», und geht auf Grund der in diesem Sinne geleisteten Arbeit
zum Inhalt der beginnenden Epoche über. Wahrscheinlich wird
wieder die Kunst als erste das «entweder-oder» des 19. Jahrhunderts
verlassen und zum «und» des kaum begonnenen 20. Jahrhunderts
übergehen.
Dieses «und» in der Kunst ist in unserem Falle das Äußere und das
Innere im Material, in den Elementen, im Werk undsoweiter.
Wenn die Zeit des Inneren im Äußeren reif ist, entsteht die Möglich-
keit vom reinen Theoretisieren zur Praxis überzuschreiten - in unserem
Falle zum synthetischen Werk.
98
Analyse der primären Elemente der Malerei
«Analyse der primären Elemente der Malerei» erschien 1928 in den
Cabiers de Belgique. Dieser Text ist auf Grund und unter Verwen-
dung von Zeichnungen aus Punkt und Linie %u Fläche entstanden,
als konzentrierte Darstellung der Kunsttheorie, die Kandinsky im
Begriff war auszubauen.
Es ist mir nicht möglich, in einem kurzen Essay einen so vielseitigen
Gegenstand gründlich zu behandeln. Die Gedanken, die ich hier zu-
sammenfasse, werden deshalb unvermeidlich schematischen Cha-
rakter haben. Diese Schematik ist nichts anderes als eine Basis,
welche die mannigfaltigen ideologischen Entwicklungen notwendiger-
weise ausschließt.
Man unterscheidet heute - in einer Epoche von «chaotischem» Zu-
stand - verschiedene Erscheinungen der Ordnung, in unterschied-
lichen Gebieten : in der Kunst im allgemeinen und in der Malerei im
besonderen.
Diese Ordnung manifestiert sich speziell in der Malerei durch die
wiederaufgenommenen Versuche, eine neue, erstmalige Theorie der
Malerei aufzustellen, ausgehend von Prinzipien und hinführend zu
einer «Abhandlung über die Komposition».
Es ist wahr, daß vielen die Neigung zur Theorie sehr zweifelhaft,
wenn nicht gefährlich und gar unselig erscheint. Nicht nur die Histo-
riker, die Künstler selber weichen zurück vor der Reflexion, vor der
«Gehirntätigkeit», denn sie befürchten, daß dadurch die reine «Er-
findung» in eine Gefahr gebracht werde, deren natürliche Folgerung
das Ende jeder Kunst sein müßte.
99
Auf der andern Seite gibt es gewisse Künstler, die so sehr von der
Notwendigkeit eines theoretischen Vorgehens überzeugt sind, daß
sie zur Ablehnung der intuitiven Phase kommen.
Dies bedeutet, daß der anomale Zustand des modernen Denkens das
Gleichgewicht zwischen den beiden Phasen Intuition und Reflexion
gestört hat.
Man kann mit aller Gewißheit annehmen, daß die großen künstleri-
schen Epochen ihre voll entwickelten Kunsttheorien hatten, von
denen man heute noch einige winzige Reste entdeckt. Die «akademi-
sche» Epoche, die dem Impressionismus voranging, besaß sicherlich
noch die seltenen Fragmente einer von der Vergangenheit vererbten
«Kompositionslehre», aber sie machte von ihnen keinen andern
Gebrauch als den einer mechanischen Anwendung, die nicht mehr
zu plastischen, wirklich lebendigen Organismen führen konnte.
Es geschah mehr oder weniger unbewußt, daß der erste Stein zu
einer - heute noch jungen - Theorie gelegt wurde, nämlich durch
die Impressionisten. Ihr Prinzip wurde entwickelt durch die Neo-
Impressionisten (Signac hat das erste theoretische Werk veröffentlicht
auf diesem Gebiet), und die Entfaltung setzte sich im Expressionis-
mus, im Kubismus und in den andern Ismen fort.
Die abstrakte Malerei war dazu berufen, diesen ersten Theorien eine
klare Begründung und eine Methode der Schöpfung und der Ver-
wirklichung zu geben, die sich durch besondere Deutlichkeit aus-
zeichnet.
Zu dieser unerläßlichen Klarheit, in ihrer Begründung und in ihrer
Methode, kam die Theorie der abstrakten Malerei durch die Betrach-
100
tung des objektiven Charakters der malerischen Vorgänge. Schon
heute darf man mit Recht annehmen, daß die Theorie der Malerei
einen wissenschaftlichen Weg eingeschlagen hat, um, ganz zweifellos,
schließlich zu einer präzisen Lehre zu gelangen.
Die Aufgaben der Theorie werden sein :
1. die Aufstellung eines methodischen Vokabulars aller gegenwärtig
zerstreuten und ihres Sinnes verlustig gegangenen Worte,
2. die Gründung einer Grammatik, welche Regeln der Konstruktion
enthält.
So wie die Worte der Sprache, werden die plastischen Elemente
wieder erkannt und bestimmt werden.
Wie in der Grammatik werden Gesetze der Konstruktion aufgestellt
werden, wobei in der Malerei die Kompositionslehre dieser Gramma-
tik entspricht.
«
1. Wiederholung einer geraden Linie mit Gewichtsänderung.
2. Wiederholung eines Winkels.
3. Gegensätzliche Wiederholung eines Winkels erzeugt Fläche.
4. Wiederholung einer Gebogenen.
101
Die abstrakte Malerei versucht also diese Elemente zu gruppieren,
und zwar vielleicht auf folgende Weise :
1. durch genaue Bestimmung der primären Elemente und Benennung
derjenigen, die sich von ihnen ableiten und bereits differenzierter und
komplizierter sind (der analytische Teil).
2. durch Feststellung der möglichen Gesetze der Anordnung dieser
Elemente in einem Werk (der synthetische Teil).
8 9
5. Wiederholung von entgegengesetzten Kurven, neue Flächen-
schöpfung.
6. Zentralrhythmische Wiederholung einer Geraden.
1. Zentralrhythmische Wiederholung einer Kurve.
8. Wiederholung einer Kurve, die durch eine Begleitkurve zerteilt
wird.
9. Gegensätzliche Wiederholung einer Kurve.
102
Das primäre Element der gezeichneten Form ist der Punkt, der un-
teilbar ist. Alle Linien entstammen organisch diesem Punkt:
A. Linien:
I. Gerade:
a) horizontale
b) vertikale
c) diagonale
d) gerade
IL Winklige oder Quadratlinien:
a) geometrische
b) freie - in horizontaler, vertikaler und anderen Richtungen
III. Kurven:
a) geometrische
b) freie - in den gleichen Arten wie unter IL
B. Flächen:
1. Dreieck
2. Viereck
3. Kreis
4. Formen, die freier als diese drei fundamentalen Formen sind
5. Freie Flächen, die nicht der Geometrie entstammen.
Ich bestehe auf dem sehr bedingten Charakter des Ausdrucks «Zeich-
nung», den ich wegen folgender Formen gewählt habe: die zeichne-
rische Form ist, in ihrer letzten Analyse, plastisch, nämlich in An-
betracht dessen, daß «Kontur» und «Farbe» in der Malerei gleich-
wertige Elemente sind. Theoretisch müssen jedoch die beiden Arten
unterschieden werden.
103
J
n
7\
r
Spannungen aus dem Zentrum
Die Elemente der Zeichnung und die plastischen Elemente stehen
untereinander in einer ständigen organischen Beziehung.
Man erkennt diese Beziehung an den Spannungen, die nichts anderes
sind als die inneren Kräfte der Elemente.
Diese inneren Kräfte, die ich Spannungen nenne, sind ausschließlich
aktive Kräfte, und zwar in der Theorie so gut wie in der Praxis.
In einem so weit wie möglich isolierten Element muß die Spannung
als absolut betrachtet werden.
In Verbindungen von zwei oder mehr Elementen bestehen die ab-
soluten Spannungen fort, aber sie erhalten einen relativen Wert.
Diese relativen Werte gehören zu den einzigen Ausdrucksmitteln der
Komposition, das heißt sie dienen dem Gegenstand als alleiniges
Mittel und durch sie drückt er sich aus.
104
Verteilung von Gewichten
Ich kann hier nur einige Beispiele geben von der organischen Be-
ziehung zwischen der gemalten Form und der gezeichneten Form,
ohne sie näher zu begründen.1
Winkel Z_ L V_
Fläche A D O
Farbe gelb rot blau
Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, daß diese Beziehungen, die
im Prinzip unveränderlich sind,nur theoretisch betrachtet werden dürfen.
In der Praxis können die plastischen Formen und die gezeichneten
Formen anders und nach allen möglichen Weisen kombiniert werden,
was zu wichtigen Folgerungen führt.
1 Der Leser findet näher begründete Entwicklungen in meinem
Buch Punkt und Linie %it Fläche.
105
Theoretisch gesehen, ist das Dreieck immer gelb. In der Praxis
jedoch ergibt diese Verbindung :
1 (absoluter Wert des Dreiecks) + 1 (absoluter Wert von gelb) = 2.
Ein blaues Dreieck wird ergeben :
1 (Dreieck) + 1 (gelb) + 1 (zusätzlicher Wert des «Harmonischen»)
= 3.
Die erste Kombination ist sozusagen von «Lyrismus», die zweite von
«Dramatik» gefärbt. Beide sind in der Praxis möglich, aber da sie in
den Resultaten verschieden sind, müssen sie mit genauem Wissen
um die Natur des Inhalts verwendet werden.
Der Inhalt ist nichts anderes als die Summe der organisierten Span-
nungen. Von diesem Gesichtspunkt aus entdeckt man die ursprüng-
liche Identität der Gesetze der Komposition in allen Künsten - unter
der Annahme, daß die Künste ihren Gegenstand nicht anders materiell
darstellen können als durch organisierte Reaktionen.
Hier findet man nun auch die Lösung eines zukünftigen «synthe-
tischen» Werkes und hier wird deutlich erkennbar, wieso dieses ver-
loren ging.
Von diesem Gesichtspunkt aus entdeckt man ferner die innige Be-
ziehung zwischen Kunst und Natur: so wie die Kunst, «arbeitet»
auch die Natur mit ihren eigenen Mitteln (das primäre Element in
der Natur ist ebenfalls der Punkt), und heute schon kann man mit
Sicherheit annehmen, daß die Wurzel der Gesetze der Komposition
die gleiche ist sowohl in der Kunst wie in der Natur.
Die Beziehung zwischen Kunst und Natur (oder dem «Gegenstand»,
wie man heute sagt) besteht nicht darin, daß die Malerei niemals
106
dazu kommen wird, die Darstellung der Natur oder des Gegen-
standes zu vermeiden, sondern sie besteht darin, daß die beiden
«Domänen» ihre Werke in einer ähnlichen oder gleichen Art und Weise
verwirklichen, und sie müssen - unmittelbar wie sie erblüht sind
und unabhängig wie sie leben - so genommen werden, wie sie sind.
107
Modeste Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung
Am 4. April 1928 wurde Modeste Mussorgsky: Bilder einer Aus-
stellung im Friedrich-Theater in Dessau aufgeführt. Kandinsky
hatte die Aufgabe der Inszenierung und die Gestaltung der Bühnen-
bilder übernommen. Leider war dies das einzige Mal, daß er seine
Idee der «Bühnensynthese» verwirklichen konnte, über das Pro-
blem und seine Absichten schreibt er in einem Aufsatz, der im
Kunstblatt vom August 1930 erschien.
Während der letzten Monate seines Lebens dachte Kandinsky
noch daran, ein Ballett zu entwerfen, er kam aber nicht mehr dazu,
eine seiner Lieblingsideen, eine wirkliche «Bühnensynthese» in
großem Ausmaß, zu verwirklichen.
Das Werk besteht aus 16 Bildern, welche die Eindrücke wieder-
geben, die Mussorgsky in einer Bilderausstellung gewonnen hatte.
Die gemalten Bilder waren natürlich «naturalistisch» (vermutlich
ausschließlich Aquarelle).
Die Musik ist aber keineswegs «Programmusik» geworden. Wenn
sie etwas «wiederspiegelt», so sind es nicht die gemalten Bildchen,
sondern die Erlebnisse Mussorgskys, die weit über den «Inhalt» des
Gemalten stiegen und eine rein musikalische Form fanden. Dies war
der Grund, warum ich das Angebot des damaligen Intendanten des
Friedrich-Theaters in Dessau, Dr. Hartmann, das Musikwerk zu
inszenieren, gern annahm.
Mit Ausnahme von zwei Bildern - «Samuel Goldenberg und
Schmuyle» und «Der Marktplatz in Limoges» - (in welchen ich zwei
Tänzer mitwirken ließ) ist das ganze Bühnenbild «abstrakt» gewesen.
Hier und da verwendete ich auch Formen, die fern «gegenständlich»
waren. Ich ging also auch nicht «programmäßig» vor, sondern ver-
wendete Formen, die mir beim Hören der Musik vorschwebten.
109
Bild 2 : Gnomus
Bild 4: Das alte Schloß
110
Die Hauptmittel waren:
1. Die Formen selbst,
2. die Farbe auf den Formen, wozu
3. die Beleuchtungsfarbe als vertiefte Malerei sich gesellte,
4. das selbständige Spiel des farbigen Lichts und
5. der mit der Musik verbundene Aufbau jedes Bildes und nötigen-
falls der Abbau desselben.
Ein Beispiel: Bild 4 - «Das alte Schloß». Die Bühne ist offen, aber
ganz dunkel (der in der Tiefe angebrachte schwarze Plüschvorhang
bildet eine «unmaterielle» Tiefe). Bei dem ersten Espressivo werden
nur drei lange vertikale Streifen in der Tiefe sichtbar. Sie verschwin-
den. Bei weiterem Espressivo kommt von rechts der große rote
Prospekt hinein (doppelte Farbe).
Danach ebenso von links der grüne Prospekt. Aus der Versenkung
erscheint die mittlere Figur. Sie wird intensiv farbig durchleuchtet.
Bei Poco largamente nimmt das Licht immer mehr ab, bis bei p
Dunkelheit eintritt. Bei letztem Espressivo werden - wie am An-
fang - die drei Streifen sichtbar. Bei letztem f plötzlich dunkel.
111
Kunstpädagogik
«Kunstpädagogik» erschien in der Zeitschrift baubaus No 2/3 1928
und kann als die Antwort Kandinskys angeschen werden auf die
am Bauhaus sich stärker zu Wort meldende Diskussionsfrage
«Warum denn Kunst ?» und «Warum Kunsterziehung am Daubaus}»
und schließlich «Warum eine Kunst-Theorie?»
Im darauffolgenden Text «Die kahle Wand» (Seite 119) gibt Kan-
dinsky noch eine weitere Antwort zum gleichen Problem.
Vor kurzem wurde allgemein und heute wird noch größtenteils der
«Kunstunterricht» als ein Sondergebiet betrachtet, das mit den
Fragen der «allgemeinen» Bildung fast keine Berührungspunkte hat.
Anderseits ist der Begriff der «allgemeinen» Bildung ein durchaus
verworrener. Man ist berechtigt zu behaupten, daß es zu unserer Zeit
keine allgemeine Bildung ohne « » gibt.
Es gibt dagegen unendlich viele «Fachausbildungen», die weder mit der
allgemeinen Bildung, noch untereinander irgendwie verbunden sind.
So bezweckt auch der heutige Kunstunterricht eine Fachausbildung,
die in sich begrenzt bleibt - wie die Fachausbildung eines Mediziners,
Juristen, Ingenieurs, Mathematikers.
Dieser allgemeinen Sachlage ist die Anschauung entgegengesetzt,
daß ein Kunstunterricht überhaupt als solcher nicht existieren könne,
weil man Kunst weder lehren, noch lernen könne: die Kunst wäre
eine Angelegenheit der reinen Intuition, die naturgemäß gewaltsam
oder unterrichtlich nicht zu erzeugen ist.
Das einflußreiche Erbe des 19. Jahrhunderts - die extreme Speziali-
sierung und das darauf folgende Zersetzen - belastet die sämtlichen
Gebiete unseres heutigen Lebens und zwingt auch die Fragen des
113
Kunstunterrichts immer tiefer in eine Sackgasse. Es ist erstaunlich,
wie wenig Konsequenzen aus den Ereignissen der letzten Jahrzehnte
gezogen wurden und wie selten der Verstand für den inneren Sinn
der großen «Verschiebung» zu bemerken ist.
Dieser innere Sinn, oder die innere Spannung der weiteren «Ent-
wicklung» sollte zur Grundlage jedes Unterrichts gelegt werden;
die Zerstückelung wird allmählich durch Verbindung ersetzt. Das
«entweder- oder» muß den Platz dem «und» räumen. Eine Fachausbildung
ohne allgemein-menschliche Grundlage sollte nicht mehr möglich sein.
Es fehlt heute in jedem Unterricht - fast ohne Ausnahme - eine
«Weltanschauung» inneren Charakters oder die «philosophische»
Grundlage des Sinnes der menschlichen Tätigkeit. Merkwürdiger-
weise werden noch heute junge Leute auf die veraltete und innerlich
tötende Weise zu Fachmenschen erzogen, die im äußeren Leben sehr
brauchbar sein können, aber nur ganz selten auch einen rein mensch-
lichen Wert darstellen.
Der Unterricht besteht in der Regel in einem mehr oder weniger ge-
waltsamen Aufhäufen von Einzelkenntnissen, welche die Jugend
sich aneignen soll und mit welchen sie außerhalb ihres «Faches»
nichts anfangen kann. Selbstverständlich bleibt dabei die Fähigkeit
der Verbindung, mit anderen Worten die Fähigkeit des synthetischen
Beobachtens und Denkens so wenig berücksichtigt, daß sie größten-
teils verkümmert.
Der Hauptzweck jedes Unterrichts sollte die Entwicklung des Denk-
vermögens in zwei gleichzeitig vor sich gehenden Richtungen sein:
1 . der analytischen und 2. der synthetischen.
114
Wir sollen also das Erbe des letzten Jahrhunderts weiter ausnützen
(Analyse = Zersetzung) und gleichzeitig durch die synthetische
Einstellung so ergänzen und vertiefen, daß die Jugend die Fähigkeit
bekommt, bei scheinbar weit voneinander liegenden Gebieten eine
lebendige, organische Verbindung zu empfinden und zu begründen
(Synthese = Verbindung).
Dann würde die Jugend die starr gewordene Atmosphäre des
«entweder -oder» verlassen und sich in die biegsame, lebendige
Atmosphäre des «und» begeben - Analyse als Mittel zur Synthese.
Daraus ist die Folgerung leicht zu ziehen, daß
1. die Hauptbasis jeder Erziehung oder jedes Unterrichts immer
dieselbe bleibt,
2. also der Kunstunterricht kein von jedem anderen Unterricht ab-
gesondertes Gebiet ist und
3. in erster Linie nicht das wichtig ist, was unterrichtet wird, sondern
wie.
Der Punkt 3 soll nicht paradox wirken.
Der in der Zeit der Zersetzung entstandene Aberglaube, es gäbe
verschiedene Arten des Denkens und also auch der schöpferischen
Arbeitest vom Standpunkt des «und» definitiv abzulehnen: die Den-
kensart und der Prozeß der schöpferischen Arbeit unterscheiden sich
auf verschiedensten Gebieten der menschlichen Tätigkeit nicht im
geringsten voneinander - sei es die Kunst, Wissenschaft, Technik.
Das maßgebende ist dabei, ob die Art des Beibringens von Fachkennt-
nissen (Unterricht) sich mit dem Aufhäufen von diesen Kenntnissen
zufriedenstellt, oder in erster Linie die Fähigkeit des analytisch-
115
synthetischen Denkvermögens zu entwickeln und zu kultivieren
sucht. Es ist für einen Künstler fruchtbarer, Fachkenntnisse aus
einem fremden Gebiet zu sammeln mit der Bedingung des erwähnten
Denkvermögens, als eng in seinem Fach «ausgebildet» zu werden
und im erwähnten Denken wie vorher unfähig zu bleiben.
Es braucht nicht weiter bewiesen zu werden, daß der ideale Unterricht
in jedem «Fach» aus 2 Teilen bestehen sollte, die unzertrennlich mit-
einander verbunden werden müßten :
1. die Erziehung zum analytisch-synthetischen Beobachten, Denken
und Handeln und
2. systematische Mitteilung und Aneignung von entsprechenden
Fachkenntnissen.
Dies bezieht sich also selbstverständlich auch auf den Kunstunterricht.
Die Kunst ist tatsächlich nicht zu erlernen - ganz genau wie die
schöpferische Arbeit und Erfindungskraft in der Wissenschaft oder
in der Technik nicht gelehrt oder gelernt werden kann.
Die großen Kunstepochen hatten aber immer ihre «Lehre» oder
«Theorie», die ebenso selbstverständlich in ihrer Notwendigkeit war,
wie es in der Wissenschaft der Fall war und ist. Diese «Lehren»
konnten nie das Element des Intuitiven ersetzen, weil das Wissen an
und für sich unfruchtbar ist. Es muß sich mit der Aufgabe begnügen,
das Material und die Methode zu liefern. Fruchtbar ist die Intuition,
die dieses Material und diese Methode als Mittel zum Zweck braucht.
Der Zweck kann aber ohne Mittel nicht erreicht werden, und in
diesem Sinne wäre auch die Intuition unfruchtbar.
Kein «entweder - oder», sondern «und».
116
Der Künstler arbeitet wie jeder andere Mensch auf Grund seiner
Kenntnisse mit Hilfe seines Denkvermögens und des intuitiven
Moments.
Auch in diesem Falle ist der Künstler von jedem anderen schöpferi-
schen Menschen nicht zu unterscheiden.
Seine Arbeit ist gesetz- und zweckmäßig.
117
mm
Die kahle Wand
«Die kahle Wand» ist am 1. April 1929 im Kunstnarr, herausgegeben
von Ernst Källai, erschienen. In diesem Aufsatz wird von Kan-
dlnsky eine Tendenz, die am Bauhaus wie eine schleichende
Krankheit begann, dargestellt und begrüßt, nämlich das, was wir
heute als die «Mal-Krankheit» bezeichnen möchten. Diese Krank-
heit entstand dadurch, daß man zeitweise die «Kunst» allgemein aus
dem Bauhaus verbannen wollte, anstatt sie wirklich zu integrieren.
So wurde sie in die Malerei - vor allem in die heimliche - ver-
drängt. An der «Mal-Krankheit» kann selbst eine gesunde Institu-
tion demoralisieren. Malerei - und das hat Kandinsky damals leider
noch nicht in der heutigen Bedeutung erkennen können -, ist w irkl ich
nur geistig gesicherten Naturen zuträglich. Für die andern ist sie
«der bequeme Ausweg» aus den Tagesproblemen - eine Flucht aus
der Synthese von Kunst und Leben, wie wir sie heute auffassen.
Die kahle Wand!....
Die Idealwand, an der nichts steht, an die nichts angelehnt ist, an der
kein Bild hängt, an der nichts zu sehen ist.
Die egozentrische, die «an und für sich» lebende, die sich behauptende,
die keusche Wand.
Die romantische Wand.
Auch ich liebe die kahle Wand, weil sie einer der Klänge der neuen
kommenden Romantik ist.
Der Verkünder der kahlen Wand, die Gegner der Romantik sind
heute sehr gute Freunde der Kunst und speziell der Malerei.
Sogar ganz besonders der Malerei, weil sie unter allen Künsten nur
die Malerei bekämpfen.
Wer die kahle Wand erleben kann, ist am besten zum Erleben eines
malerischen Werkes vorbereitet :
die zweidimensionale, tadellos glatte, vertikale, proportionierte,
119
«schweigende», erhabene, sich behauptende, in sich gekehrte, von
außen begrenzte und nach außen ausstrahlende Wand ist ein fast
primäres «Element».
Und das primäre Element ist das «A» des Kunstverstandes, nach dem
das «B» unvermeidlich kommen muß : es muß, da es kann.
Die Biermusik ist laut und donnernd wie eine bürgerliche Durch-
schnittswohnung. Der heutige Mensch ist betäubt - er kann nur
Lautes empfinden. Wenn er nicht am Kragen gepackt und nicht or-
dentlich geschüttelt wird, bleibt er unberührt.
Aber das Laute ist nur ein Teil des Ganzen - wer weiß, ob das Leise
(und Schweigsame) nicht ein noch wichtigerer Teil des Ganzen ist ?
Wir Maler sind unseren «Feinden» zu Dank verpflichtet, weil sie
unsere Freunde sind.
Je nach «Richtung» und Gesinnung wird verschiedenes vom heutigen
Maler verlangt. Besonders vom «abstrakten».
Manche verlangen von uns, daß wir nur Wände anstreichen.
Und nur innen.
Manche wünschen, daß wir die Häuser von außen anstreichen.
Und nur von außen.
Manche verlangen von uns, daß wir die Industrie bedienen, daß wir
Muster für Stoffe, Krawatten, Socken, Geschirr, Sonnenschirme,
Aschenbecher, Teppichläufer liefern.
Nur Kunstgewerbe.
Wir sollen nur das Bildermalen für alle Zeiten lassen. Manche sind
wieder gütiger und gestatten uns, Bilder direkt auf Wände zu malen,
wenn wir auf die Staffeleimalerei verzichten.
120
Je nach «Richtung» und Gesinnung wird dem heutigen Maler ver-
boten :
das Staffeleibildmalen,
das Wandmalen,
das Bemustern der Stoffe und aller anderen Gegenstände,
das Wandanstreichen von außen,
das Wandanstreichen von innen,
das Malen überhaupt.
Es gibt heute Menschen, welche die Malerei lieben. Sie rinden manch-
mal, daß heute keine «richtige» Malerei getrieben wird.
Das Verlassen der alten sicheren Tradition durch die Maler wird nach
Meinung dieser kunstliebenden Menschen durch Unfruchtbarkeit
gestraft.
Wie oft wird mündlich und schriftlich getrauert: es gäbe keinen
«Nachwuchs». «Immer dieselben langsam alternden Maler - und wo
ist die Jugend, welche die ,heilige Fahne' der Kunst übernehmen
sollte und könnte ?»
«Die Malerei entartet und geht zugrunde.» Die einen trauern, die
andern freuen sich. Die einen trauern, die andern freuen sich, daß
im Bauhaus gemalt wird, daß es nicht nur die «Meister» tun, son-
dern daß es auch die Jugend tut, daß es im Bauhaus seit bald zwei
Jahren einen regelrechten Unterricht gibt - außer der praktischen
«Werkstatt für Wandmalerei» wird jetzt die Malerei auch in den un-
praktischen «freien Malklassen» kultiviert.
Man begegnet aber in demselben Bauhaus Studierenden, die weder
in der praktischen Abteilung, noch in den unpraktischen Malklassen
121
zu finden sind und die sich trotzdem «freimalerisch» betätigen: es
malen zum Beispiel Tischler, Metallisten, Weberinnen, sogar Archi-
tekten.
Sogar Architekten.
Ist es ein Wunder, daß alle diese jungen Menschen die kahle Wand
lieben, obwohl sie oft gar nicht wissen, wie romantisch sie ist ?
Sie malen aus innerem Bedürfnis und zweifeln nicht an der Zukunft
der Malerei. Wenn sie theoretisieren, so machen sie auch dies malerisch,
das heißt künstlerisch.
Das abgestorbene Wort Kunst ist ausgerechnet im Bauhaus aufer-
standen. Und mit dem Wort ist die Tat verbunden.
Glücklicherweise und endlich verschwinden von den Wänden dank
unseren Freunden (der kahlen Wand) die Mißgeburten der Malerei.
Und nicht nur wir, geduldige, ausharrende, wenn auch «langsam
alternde Meister», sondern mit uns wird auch die heranwachsende
Jugend dafür sorgen, daß die kahle Wand dort, wo es nötig ist,
weiter kahl bleibt, und daß die anderen Wände nicht wieder mit
Mißgeburten vollgestopft werden, sondern «plan- und zweckmäßig»
mit schweigender Freude die «malerischen Welten» an sich nehmen.
Wer hier einen Anlaß zum Trauern findet, soll ruhig weiter trauern.
Wir freuen uns.
122
Der Blaue Reiter (Rückblick)
1930 erschien in der Zeitschrift Das Kunstblatt von Kandinsky
ein Brief an dessen Herausgeber Paul Westheim. Der Blaue Reiter,
seine Vorgeschichte und das Drum und Dran, werden hier von
Kandinsky aus seiner Erinnerung dargestellt.
Sehr geehrter Herr Westheim !
Sie fordern mich auf, meine Erinnerungen an die Entstehung des
«Blauen Reiter» wachzurufen.
Heute - nach so vielen Jahren - ist dieser Wunsch berechtigt, und
ich komme ihm sehr gern nach.
Heute - nach so vielen Jahren - hat sich die geistige Atmosphäre
in dem so schönen und trotz allem doch lieben München grund-
sätzlich verändert. Das damals so laute und unruhige Schwabing ist
still geworden - kein einziger Laut verbreitet sich von dort. Schade
um das schöne München und noch mehr schade um das etwas ko-
mische, ziemlich exzentrische und selbstbewußte Schwabing, in
dessen Straßen ein Mensch - sei es ein Mann oder eine Frau (a Weibs-
build) - ohne Palette, oder ohne Leinwand, oder mindestens ohne
eine Mappe sofort auffiel. Wie ein «Fremder» in einem «Nest». Alles
malte . . . oder dichtete, oder musizierte, oder fing zu tanzen an. In
jedem Haus fand man unter dem Dach mindestens zwei Ateliers,
wo manchmal nicht gerade so viel gemalt wurde, aber stets viel dis-
kutiert, disputiert, philosophiert und tüchtig getrunken (was mehr
vom Beutel- als vom Moralzustand abhängig war).
«Was ist Schwabing?» fragte einmal ein Berliner in München. «Es
ist der nördliche Stadtteil» sagte ein Münchner. «Keine Spur», sagte
123
ein anderer, «es ist ein geistiger Zustand.» Was richtiger war. Schwa-
bing war eine geistige Insel in der großen Welt, in Deutschland,
meistens in München selbst.
Dort lebte ich lange Jahre. Dort habe ich das erste abstrakte Bild
gemalt. Dort trug ich mich mit Gedanken über «reine» Malerei, reine
Kunst herum. Ich suchte «analytisch» vorzugehen, synthetische Zu-
sammenhänge zu entdecken, träumte von der kommenden «großen
Synthese», fühlte mich gezwungen, meine Gedanken nicht nur der
mich umgebenden Insel, sondern den Menschen außerhalb dieser
Insel mitzuteilen. Ich hielt sie für befruchtend und notwendig.
So entstand von selbst aus meinen flüchtigen Notizen «pro doma sua»
mein erstes Buch «Über das Geistige in der Kunst». Ich hatte es 1910
fertig geschrieben in meiner Schublade liegen, da kein einziger Ver-
leger den Mut hatte, einige (schließlich ziemlich geringe) Verlags-
kosten zu riskieren.
Auch die sehr warme Teilnahme des großen Hugo von Tschudi
nützte nichts.
Zu derselben Zeit wurde mein Wunsch reif, ein Buch (eine Art
Almanach) zusammenzustellen, an dem sich ausschließlich Künstler
als Autoren beteiligen sollten. Ich träumte von Malern und Musikern
in erster Linie. Die verderbliche Absonderung der einen Kunst von
der anderen, weiter der «Kunst» von der Volks-, Kinderkunst, von
der «Ethnographie»1, die fest gebauten Mauern zwischen den in
1 Meine erste Begeisterung für Ethnographie ist alten Datums : als
Student der Moskauer Universität bemerkte ich allerdings ziemlich
unbewußt, daß die Ethnographie ebenso Kunst wie Wissenschaft
124
meinen Augen so verwandten, öfters identischen Erscheinungen, mit
einem Wort die synthetischen Beziehungen ließen mir keine Ruhe.
Heute kann es ja sonderbar erscheinen, daß ich lange keinen Mit-
arbeiter, keine Mittel, einfach kein genügendes Interesse für diese Idee
finden konnte.
Es war die kräftige Anfangszeit der vielen «Ismen», die das syn-
thetische Empfinden noch nicht kannte und in temperamentvollen
«Zivilkriegen» das Hauptinteresse fand.
Fast an einem Tag (1911-1912) kamen in der Malerei zwei große
«Strömungen» zur Welt: der Kubismus und die Abstrakte (= Ab-
solute) Malerei. Gleichzeitig der Futurismus, Dadaismus und der
bald siegreich gewordene Expressionismus.
Es dampfte nur so !
Die atonale Musik und ihr damals überall ausgepfiffener Meister
Arnold Schönberg regten die Gemüter nicht weniger als die erwähnten
malerischen Ismen auf. Damals lernte ich Schönberg kennen und fand
in ihm sofort einen begeisterten Anhänger der Blaue-Reiter-Idee.
(Es war damals nur ein Briefwechsel, die persönliche Bekanntschaft
kam erst etwas später zustande.)
Mit einigen zukünftigen Autoren stand ich bereits in Verbindung.
Es war der Blaue Reiter in spe, noch ohne Verkörperungsaussichten.
Und da kam Fran% Marc aus dem Sindeisdorf.
Eine Unterredung genügte : wir verstanden uns vollkommen. In die-
ist. Die entscheidende Tatsache war aber der erschütternde Ein-
druck, den ich viel später im Museum für Völkerkunde in Berlin
von der Negerkunst erlebte !
125
sem unvergeßlichen Mann fand ich ein damals sehr seltenes Exemplar
(ist es heute nicht so selten ?) eines Künstlers, der weit über die Grenzen
einer «Vereinsmeierei» blicken konnte, der nicht äußerlich, sondern
innerlich gegen bindende, hemmende Traditionen eingestellt war.
Das Erscheinen des «Geistigen» im R. Piper- Verlag verdanke ich
Franz Marc : er ebnete die Wege.
Lange Tage, Abende, hie und da auch halbe Nächte besprachen wir
unser Vorgehen. Klipp und klar war uns beiden von vornherein,
daß wir streng-diktatorisch vorgehen müssen: volle Freiheit für die
Verwirklichung der verkörperten Idee.
Franz Marc brachte in dem damals sehr jungen August Macke eine
hilfreiche Kraft. Wir stellten ihm die Aufgabe, hauptsächlich das
ethnographische Material zu besorgen, was wir auch selbst mit-
machten. Er löste seine Aufgabe glänzend und bekam eine weitere,
über Masken einen Aufsatz zu schreiben, was er ebenso schön er-
ledigte.
Ich besorgte die Russen (Maler, Komponisten, Theoretiker) und über-
setzte ihre Artikel.
Marc brachte aus Berlin eine große Anzahl Blätter - es war die «Brük-
ke», die erst gebaut wurde und in München vollkommen unbekannt
war.
«Künstler, schaffe, rede nicht!» schrieben und sagten uns einige Künst-
ler und lehnten unsere Aufforderung, Artikel zu liefern, ab. Dies
gehört aber zum Kapitel der Ablehnungen, Bekämpfungen, Em-
pörungen, was hier unberührt bleiben soll.
Es war eilig! Noch vor der Erscheinung des Bandes veranstalteten
126
Franz Marc und ich die 1. Ausstellung der Redaktion des Blauen
Reiters1 in der Galerie Tannhauser - die Basis war dieselbe: kein
Propagieren einer bestimmten, exklusiven «Richtung», das Nebenein-
anderstellen von verschiedensten Erscheinungen in der neuen Malerei
auf internationaler Basis und . . . Diktatur. «... wie der innere Wunsch
der Künstler sich mannigfaltig gestaltet», schrieb ich im Vorwort.
Die zweite (und die letzte) Ausstellung war eine grafische in der
gerade eröffneten Galerie Hans Goltz, der vor zwei Jahren etwa,
kurz vor seinem Tod, mit großer Begeisterung über diese famose
Zeit an mich schrieb.
Mein Nachbar in Schwabing war Paul Klee. Er war damals noch sehr
«klein». Ich kann aber mit berechtigtem Stolz behaupten, daß ich in
seinen damaligen ganz kleinen Handzeichnungen (er malte noch nicht)
den späteren großen Klee gewittert habe. Eine Zeichnung von ihm
ist im Blauen Reiter zu finden.
Es drängt mich, noch den überaus großzügigen Mäzen von Franz
Marc, den auch kürzlich verstorbenen Bernhard Koehler, zu erwähnen.
Ohne seine hilfreiche Hand wäre der Blaue Reiter doch eine schöne
Utopie geblieben, auch «Der erste Deutsche Herbst- Salon» von
Herwarth Waiden und noch manches andere.
Mein nächster Plan für den nächsten Band des Blauen Reiter war,
die Kunst und die Wissenschaft nebeneinander zu stellen : Ursprung,
Werdegang in der Arbeitsart, Zweck. Heute weiß ich noch viel besser
1 Den Namen «Der Blaue Reiter» erfanden wir am Karleetisch
in der Gartenlaube in Sindeisdorf; beide liebten wir Blau, Marc -
Pferde, ich - Reiter. So kam der Name von selbst. Und der märchen-
hafte Kaffee von Frau Maria Marc mundete uns noch besser.
127
als damals, wie viele kleinere Wurzeln zu einer einzigen großen
zurückzuführen sind - Arbeit der Zukunft.
Aber damals kam der Krieg und schwemmte auch diese bescheidenen
Pläne fort.
Was aber durchaus notwendig ist - innerlich! - kann verschoben,
aber nicht mit der Wurzel herausgerissen werden.
Mit den besten Grüßen
Ihr Kandinsky.
128
\y*
Paul Klee
Es gibt von Kandinsky nur 4 Aufsätze über Künstler-Kollegen.
Einen über Paul Klee, einen über Sophie Taeuber-Arp und zwei
über Franz Marc. Jener über Klee ist der erste. Er erschien in der
Zeitschrift bauhaus No 3/1931 anläßlich des Abschieds von Paul
Klee vom Bauhaus. Kandinsky äußert sich darin nicht über die
Kunst von Klee, sondern über seine Erscheinung, sein Wirken und
seine Auswirkung am Bauhaus.
Diese Nummer der bauhaus- Zeitschrift ist Paul Klee gewidmet.
Die Veranlassung ist Klees Fortgang vom Bauhaus. Es wäre mir
lieber, den Auftrag meiner Bauhauskollegen, diese Nummer zu
redigieren, aus einem entgegengesetzten Grund zu übernehmen -
nicht Fortgang, sondern Rückkehr.
Volle zehn Jahre war die Arbeit am Bauhaus eng mit der Tätigkeit
Klees an unserem Institut verknüpft. Solche Verbindungen reißen
nicht schmerzlos.
Das fühlen intensiv alle Bauhausangehörigen - Lehrer und Stu-
dierende, besonders die, welche am Unterricht Klees teilnahmen.
Ich weiß, daß es auch Klee selbst nicht leicht fiel, sich zum Riß zu
entschließen.
Was mich persönlich anlangt, erlaube ich mir, auch etwas Subjektives
auszusprechen. Vor mehr als 20 Jahren zog ich in München in die
Ainmillerstraße und erfuhr bald, daß der junge Maler, der gerade
mit erstem Erfolg in der Galerie Thannhauser debütierte, Paul Klee,
fast Haus an Haus neben mir wohnte. Wir blieben bis zum Ausbruch
des Krieges Nachbarn und aus dieser Zeit stammt der Anfang unsrer
Freundschaft. Der Krieg sprengte uns auseinander. Erst nach acht
130
Jahren führte mich das Schicksal ans Bauhaus in Weimar und so
wurden wir - Klee und ich - zum zweiten Mal Nachbarn: fast
nebeneinander lagen unsre Ateliers im Bauhaus. Bald wieder eine
Sprengung: das Bauhaus flog mit einer Geschwindigkeit aus Weimar
heraus, um die es ein Zeppelin beneiden könnte. Diesem Flug ver-
danken Klee und ich die dritte und die engste Nachbarschaft: über
fünf Jahre wohnen wir dicht aneinander. Nur eine Brandmauer trennt
unsre Wohnungen, wir können uns aber trotz der Mauer und ohne
das Haus zu verlassen besuchen - ein kurzer Gang durch den Keller.
Bayern - Thüringen - Anhalt. Was weiter ? Aber auch ohne Keller-
gang bleibt die geistige Nachbarschaft bestehen.
Für Klee ist das Bauhaus bereits Erinnerung geworden. Aber so bald
vergißt er es nicht. Fast vom allerersten Anfang hat Klee das Schick-
sal dieses vielgeprüften Instituts miterlebt und geteilt: die anfäng-
lichen «heroischen» Zeiten, als die jungen Menschen fast durchwegs
die Wandervogelgestalt liebten - lange Haare, die schon nach
wenigen Tagen immer kürzer wurden, dekolletierte Brust, die bald
einen Schlips bekam, Sandalen, die sich später sogar in Lackschuhe
umwandelten.
Dies war nur die äußere und vorübergehende Seite des Bauhäuslers.
Innerlich war er schon damals ein junger Mensch, der mit Ausdauer
und Ernst an der Gestaltung des neuen Wohnwesens mitzuarbeiten
suchte, ernst studierte und die schöpferische Idee verehrte. Wenn Klee
nicht direkt auf die Kürzung der Haare wirkte, so entwickelte sein
Wort und seine Tat, sein eigenes Beispiel die inneren positiven
Seiten des Studierenden in hohem Maße. Das Wort allein ist schwach,
131
wenn es nicht durch das tatkräftige, offenliegende Beispiel unter-
stützt ist. Am Beispiel der restlosen Hingabe an seine Arbeit können
wir alle bei Klee lernen. Und haben bestimmt gelernt.
Damit treten nicht nur die rein künstlerischen, sondern auch die rein
menschlichen Qualitäten in den Vordergrund. Diese letzteren sind
nicht so auffallend und ihr Einfluß nicht so leicht zu bemerken. Doch
lehrt mich meine pädagogische Erfahrung, daß die Jugend (wenn
auch oft unbewußt) für menschliche Eigenschaften des Lehrers nicht
weniger lebendiges Interesse hat, als für seine sonstigen Qualitäten
- die künstlerischen, wissenschaftlichen. Jedes Wissen ohne mensch-
liche Basis bleibt auf der Oberfläche : die Quantität (Anhäufung von
Kenntnissen) wächst, aber die Qualität (die befruchtende Kraft der
Kenntnisse) bleibt unverändert. Das Wachsen des äußeren Quantums
führt manchmal zu innerer «0», nicht selten zum «Minus».
Klee verbreitete am Bauhaus eine gesunde, befruchtende Atmosphäre
- als großer Künstler und als klarer, reiner Mensch. Das Bauhaus
weiß es zu schätzen.
132
Betrachtungen über die abstrakte Kunst
1930 erschien die erste große Kandinsky-Monografie von Will
Grohmann im Verlag Cahiers d' Art in Paris, und damit begann das
Interesse für ihn in der Stadt, die sich so gern als führend und
avantgardistisch in der Kunst ausgibt. Daß Kandinsky über
60 Jahre alt werden mußte, bis er in Paris einigermaßen zu An-
erkennung gelangte, wirft immerhin ein eigenartiges Licht auf den
Pariser «Kunstbetrieb».
In Cabiers d'Art No 1/1931, herausgegeben von Christian Zervos
in Paris, erschien dann von Kandinsky der Aufsatz «Reflexions sur
l'Art Abstrait». Obschon seit jeher sogenannte «abstrakte Kunst»
in Paris entstand, - waren doch Kupka, Mondrian, Vantongerloo,
van Doesburg, Arp seit Jahren in Paris tätig, bestand doch schon
das Manifest Art concret von van Doesburg (1930), Cercle et Carre,
herausgegeben von Michel Seuphor, und war die internationale
Vereinigung «Abstraction-Creation» im Entstehen -, war es nötig,
daß Kandinsky einen grundsätzlichen Aufsatz für Cabiers d'Art
schrieb, der nochmals darstellen mußte, wann «Kunst» = «Kunst»
sei. Man konnte sich damals in Frankreich noch schwer derartige
Gedankengänge vorstellen. Der Kubismus hatte die Entwicklung
auf Jahre hinaus blockiert.
Die «abstrakten» Maler sind die Angeklagten, das heißt also, daß sie
sich verteidigen müssen. Sie müssen beweisen, daß die «gegenstands-
lose» Malerei wirklich Malerei ist und neben der anderen ihre Exi-
stenzberechtigung hat.
Diese Art der Fragestellung ist ungenau und ungerecht.
Ich werde versuchen, die Frage umzukehren und von den ausschließ-
lichen Parteigängern der gegenständlichen Malerei verlangen, daß
sie beweisen : ihre Malerei sei die einzig wahre.
Mit andern Worten: daß die Parteigänger der gegenständlichen
Malerei beweisen, daß der Gegenstand in der Malerei ebenso unentbehr-
134
lieh ist wie die Farbe und die Form (in einem gewissen Sinne), ohne
die man sich die Malerei nicht denken konnte.
Die Erfahrung verschiedener Zeitalter hat Gemälde hervorgebracht,
die nicht in der Darstellung ihre Zuflucht suchten und die auf diese
Weise besonders den Wert der unentbehrlichen Elemente - Form und
Farbe - vergrößerten.
Einige unserer heutigen «abstrakten» Malereien sind im besten Sinne
des Wortes mit künstlerischem Leben begabt: sie haben den Puls-
schlag des Lebens, die Ausstrahlung, und sie üben auf das Innere
des Menschen durch Vermittlung des Auges eine Bewegung aus.
Auf eine rein malerische Weise. Ebenso gibt es unter den heutigen
gegenstandslosen Bildern nicht nur solche, die mit künstlerischem
Leben, im besten Sinne des Wortes, begabt sind.
Ich möchte kurz bemerken, daß die Etikette «abstrakt» zum Irrtum
verleitet und schädlich ist, wenn man sie buchstäblich nimmt. Aber
soviel ich weiß, wurde zu ihrer Zeit die Etikette «impressionistisch»
ausgedacht und angewendet, um dieser Bewegung eine Wendung
ins lächerliche zu geben. Der Ausdruck «Kubismus», wörtlich ge-
nommen, ist eine schädliche Banalisierung des Neuen im Kubismus.
Die Vorwürfe, die man der abstrakten Malerei macht, sind mir seit
langem bekannt.
Sie wäre eine Sackgasse: Haben die Impressionisten, Kubisten, Ex-
pressionisten und Nachimpressionisten nicht ganz genau dieselben
Prophezeiungen hören müssen? Alle diese «Richtungen» - denn so
nennt man im allgemeinen die Entdeckungen - wurden von der
Presse, dem Publikum und selbst den Künstlern als «anarchisch»
135
betrachtet (damals gab es noch keinen Bolschewismus), die das
«ewige» Grundgesetz der Malerei bedrohen und zerstören. Man
tröstete sich, indem man sagte, daß sie in eine Sackgasse führten.
Man versicherte, daß die Impressionisten die Kunst durch ihre Liebe
zur Landschaft erniedrigten und daß diese Liebe einer katastrophalen
Abnahme der schöpferischen Kraft entspräche. Man sprach nicht nur
von einer Sackgasse, sondern vom Ende der Kunst. Was Beispiele
anbetrifft, so ist es nicht schwer, sie in der Kunstgeschichte zu
finden.
Die Natur der Kunst bleibt stets unwandelbar, wenn es sich zum Beispiel
um Malerei oder Musik handelt. Wäre es möglich, einen Menschen
zu finden, der behauptet, daß das Lied oder die Oper allein dem
wahren Wesen der Musik entsprechen, und daß die reine sympho-
nische Musik intellektuell und erkünstelt sei und in einer Sackgasse
endige! Es gab eine Zeit, wo man solche Behauptungen zu hören
bekam.
Nur was dem Geist den Rücken kehrt, gerät in Sackgassen. Hin-
gegen öffnet das, was aus dem Geist geboren wird und ihm dient,
alle Sackgassen und führt zur Freiheit.
Intellektuelle Arbeit. - Es ist immer ein wenig abträglich, sich nur auf
die Vergangenheit zu stützen. Es ist gefährlich zu behaupten, daß die
Neuheiten Irrtümer wären, weil es sie noch niemals gegeben hat.
Und schon aus dem Grund, weil unsere Kenntnis der Vergangenheit
sehr mangelhaft ist. Tatsächlich kann man sehr oft in der Vergangen-
heit Erscheinungen finden, die zum mindesten eng verschwägert sind
mit den «allerneuesten» Phänomenen, und die es noch niemals gegeben
136
zu haben scheint; denken wir zum Beispiel an Frobenius und an
seine neuesten Entdeckungen.
Was die intellektuelle Arbeit angeht, so sind wir im Recht zu ver-
sichern, daß es in der Kunstgeschichte Zeiten gab, in denen die Mit-
arbeit der Vernunft (intellektuelle Arbeit) nicht bloß eine wichtige,
sondern eine entscheidende Rolle spielte. Es wäre also unleugbar,
daß die intellektuelle Arbeit manchmal eine notwendige Kraft der
Mitarbeit ausmacht.
Wir können außerdem auch ganz mit Recht behaupten, daß bis zur
Gegenwart die intellektuelle Arbeit als solche, das heißt ohne in-
tuitives Element, niemals lebende Werke hervorbrachte.
Aber man kann ferner nur «überzeugt» sein, «fest glauben», prophe-
zeien, daß es niemals anders ist mit diesem Verhältnis, weil es anders
gar nicht sein kann.
Das ist auch meine persönliche «Überzeugung», ohne daß ich sie auf
rein theoretische Weise begründen könnte. Ich kann nur aus persön-
licher Erfahrung sprechen: meine verschiedenen Versuche, von An-
fang bis zu Ende auf eine ausschließliche vernunftgemäße Art zu
verfahren, haben niemals zu einer wahren Lösung geführt. Ich zeich-
nete zum Beispiel das geplante Bild gemäß mathematischer Propor-
tionen auf eine berechnete Fläche; aber schon die Farbe veränderte
die Proportionen der Zeichnung so gründlich, daß man es nicht
bloß der «Mathematik» allein zuschreiben konnte.
Das weiß jeder Künstler, für den die Elemente lebende Dinge sind.
Außerdem sind allein in der Farbe (indem man sie so weit wie möglich
von der Form abstrahiert) die mathematische «Mathematik» und die
137
«malerische» Mathematik gänzlich voneinander verschiedene Bereiche.
Wenn man zu einem Apfel eine immer größer werdende Zahl Äpfel
hinzufügt, vermehrt sich die Zahl der Äpfel, und man kann sie zu-
sammenzählen. Aber wenn ich zu einem Gelb immer mehr Gelb
hinzufüge, vermehrt sich das Gelb nicht, sondern verringert sich
(das, was wir am Anfang haben und das, was zum Schluß blieb, kann
nicht berechnet werden).
Unglücklich derjenige, der sich allein der Mathematik - der Ver-
nunft überläßt.
Das Grundgesetz, das die Arbeitsmethode und die Energien des
«gegenständlichen» und des «ungegenständlichen» Malers lenkt, ist
absolut das gleiche.
Die normalen Werke der abstrakten Malerei entspringen der gemein-
samen Quelle aller Künste : der Intuition.
Die Vernunft spielt in allen diesen Fällen die gleiche Rolle: sie ar-
beitet mit, ob es sich nun um Werke handelt, die die Natur nach-
ahmen oder nicht, aber immer als sekundärer Faktor.
Die Künstler, die sich «reine Konstruktivsten» nennen, haben ver-
schiedene Versuche gemacht, um auf einer rein materialistischen
Basis zu konstruieren. Sie suchten das «veraltete» Gefühl (Intuition)
wegzuschaffen, um der «vernünftigen» Gegenwart mit Mitteln zu
dienen, die ihr angepaßt sind. Sie vergaßen, daß es zwei Mathematiken
gibt. Und außerdem konnten sie niemals eine klare Formulierung
aufstellen, die sich auf alle Verhältnisse des Bildes erstreckte. Sie
waren somit gezwungen, entweder schlechte Bilder zu malen, oder
die Vernunft durch «veraltete» Intuition zu korrigieren.
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Henri Rousseau sagte eines Tages, daß seine Bilder besonders gut
gelungen wären, wenn er in sich auf eigentümliche Art klar «die
Stimme seiner verstorbenen Frau» vernahm. Ebenso rate ich meinen
Schülern denken zu lernen, aber Bilder nur zu malen, wenn sie die
Stimme «ihrer verstorbenen Frau» hören.
Geometrie. - Warum wird nun ein Gemälde, in welchem sich «geo-
metrische» Formen befinden, «geometrisch» genannt, und ein Ge-
mälde, in dem Pflanzenformen vorkommen, nicht «botanisch» ?
Oder kann man vielleicht ein Bild, auf dem eine Guitarre oder eine
Violine dargestellt ist, «musikalisch» nennen ?
Man wirft einigen «abstrakten» Malern vor, daß sie sich für Geo-
metrie interessieren. Als ich Anatomie an der Malschule studieren
mußte (woran ich keineswegs Geschmack fand, um so mehr als der
Unterricht des Anatomieprofessors schlecht war) sagte mir mein
Lehrer Anton Azbe: «Sie müssen die Anatomie kennen, doch vor
der Staffelei müssen Sie sie vergessen.»
Nach der Landschaftsperiode, als diese «zugelassen» war, wurden die
Presse, das Publikum und selbst die Künstler von einem neuen
Schrecken erfaßt, da man plötzlich mehr und mehr «Stilleben»
(natures mortes) zu malen anfing. Die Landschaft ist wenigstens
etwas Lebendes (nature vivante), sagte man damals, und nicht
umsonst nennt man diese «nature» «morte».
Aber der Maler hatte zurückhaltende, stille, fast unbedeutende
Gegenstände nötig. Wie still ist ein Apfel gegen einen Laokoon!
Ein Kreis ist noch stiller. Mehr noch als ein Apfel. Unser Zeitalter
ist nicht ideal, aber unter den seltenen wichtigen «Neuigkeiten» oder
140
den neuen Eigenschaften des Menschen muß man die wachsende
Fähigkeit zu schätzen wissen: einen Klang in der Stille zu hören. Und
so wie der geräuschvolle Mensch durch die stillere Landschaft,
wurde die Landschaft selbst durch das noch stillere Stilleben ersetzt.
Man ging noch einen Schritt weiter. Heutzutage sagt ein Punkt im
Bilde manchmal mehr als ein menschliches Gesicht.
Eine Vertikale, die sich einer Horizontalen verbindet, erzeugt einen
fast dramatischen Klang. Die Berührung des spitzen Winkels eines
Dreiecks mit einem Kreis hat in der Tat nicht weniger Wirkung als
die des Finger Gottes mit dem Finger Adams bei Michelangelo.
Und wenn die Finger nicht Anatomie oder Physiologie sind, sondern
mehr, nämlich malerische Mittel, sind Kreis und Dreieck nicht
Geometrie, sondern mehr: malerische Mittel. Zuweilen spricht die
Stille sogar stärker als das Laute, und die Stummheit bekommt eine
klare Beredsamkeit.
Die abstrakte Malerei kann natürlich außer den sogenannten sehr
strengen, geometrischen Formen von einer unbegrenzten Zahl so-
genannter freier Formen Gebrauch machen und neben den primären
Farben eine unbegrenzte Menge unerschöpflicher Abtönungen ver-
wenden, - jedesmal im Einklang mit dem Ziel des gegebenen Bildes.
Was den Grund betrifft, weshalb sich diese scheinbar neue Fähigkeit
bei den Menschen zu entwickeln beginnt, würde uns hier zu weit
führen. Es genügt hier zu sagen, daß sie mit der scheinbar neuen
Fähigkeit verbunden ist, die es dem Menschen erlaubt, unter der
Oberfläche der Natur sein Wesen, seinen «Inhalt» zu spüren. Mit der
Zeit wird man schlagend beweisen, daß die «abstrakte» Kunst nicht
141
die Verbindung mit der Natur ausschließt, sondern daß im Gegenteil
diese Verbindung größer und intensiver ist als je in jüngster Zeit.
Die Geister, die beim Anblick einiger Dreiecke in einem Gemälde
Gefangene dieser Dreiecke bleiben, und die somit unfähig sind, die
Malerei zu sehen, sind dieselben Geister, die auf jede männliche Figur
der Antike Feigenblätter anbringen ließen.
Aber ich glaube, daß selbst das Feigenblatt ihnen niemals für die
plastische Form des Altertums die Augen hat öffnen können.
Vergessen wir übrigens nicht, was ein großer Theatermann, Nelidoff,
in seiner Geschichte des russischen Theaters gesagt hat: daß nichts
mit solcher Erbitterung bekämpft wird als eine neue Form in der
Kunst.
Die ungewohnte Form verdeckt den Gehalt : so ist es bei den meisten
Menschen.
Allein die Zeit ist fähig, diesen Stand der Dinge zu ändern.
142
"J<
Fragen und Antworten
1935 legte der Herausgeber der Gaceta de Arte, Edoardo Westerdal
in Tenerifa, Kandinsky einige Fragen vor, die hier wiedergegeben
sind und auf die Kandinsky antwortete.
Fragen der «Gaceta de Arte» Tenerife
1 . Gibt es in der Kunst der Gegenwart eine Linie, die eine Vermitt-
lung darstellt zwischen zwei so gegensätzlichen Tendenzen wie die
Flucht vom Objekt gegen die reinen Zonen der Abstraktion und der
Rückkehr zu ihm als dem Repräsentanten unserer sichtbaren oder
fühlbaren Welt?
2. Welches ist die Stellung des Künstlers vor den komplexen poli-
tisch-sozialen oder sittlich- wirtschaftlichen Problemen unserer Zeit?
3. Kann man sich seiner Beeinflussung entziehen ?
4. Sind sein Einfluß und seine Teilnahme natürlich ?
5. Gibt es eine Kunst der Reklame ?
6. Leistet die Kunst einen Dienst oder nicht ?
7. Befindet sich die gegenwärtige Kunst in einer Krise ?
8. Die unmittelbare Realität einer Welt außerhalb der uns bekannten,
sei es eine vorausgesehene oder eine durch die konstante Neuschöp-
fung aus unserer Innenwelt entstandene — führt sie uns zu einer
Interpretation eines neuen Menschen oder einer neuen Epoche der
Dekadenz oder einer Erhöhung der Kultur ?
Antworten auf die Fragen der «Gaceta de Arte» Tenerife
1. «Die Flucht vom Objekt» bedeutet nicht die Flucht von der Natur
144
im allgemeinen. Jede wahre Kunst ist ihren Gesetzen unterworfen.
Es ist nicht nötig, sich an die «Natur» zu halten, denn diese ist nur
ein Teil der Natur im allgemeinen. Man kann sich der Vermittlung
der «Natur» enthalten, wenn man sich direkt in Beziehung setzen
kann mit dem Ganzen.
Die sogenannte abstrakte Kunst ist denselben Gesetzen unterworfen.
Wenn diese unvermeidliche Verbindung nicht vorhanden ist in einem
Werk, dann will das heißen, daß es kein Kunstwerk ist. Um dies zu
erkennen, sind nicht die 20 Jahre nötig, die seit meiner Feststellung,
daß «die Frage der Form im Prinzip nicht existiert» (siehe «Über die
Formfrage», Der Blaue Reiter \ München 1912), verflossen sind.
2. Die Stellung des Künstlers «vor den komplexen politischen, sozialen
oder sittlich-wirtschaftlichen Problemen» ist über diesen Problemen.
Die künstlerische Arbeit verlangt den ganzen Menschen und eine
ganze Vertiefung in die Welt der Kunst.
3. Aber der Künstler ist ein natürliches Glied seiner Zeit. Wenn der
Geist dieser Zeit die Kraft besitzt, ihn in seinen Dienst zu ziehen,
dann tut er es, ohne es zu wissen. Es ist wohl möglich zu sagen «ab
morgen werde ich politische, soziale, marxistische oder faschistische
Malerei machen», aber es ist unmöglich, sie auch ausdrücklich zu
machen. Als ich zu Beginn des «Großen Krieges» nach Moskau kam,
sagte mir einer meiner Kollegen: «Wohlan, nun werden wir also im
nationalen Sinn malen?» Ich habe meinerseits gefragt: «Und nach
Kriegsende?». Man sang schon in fast allen Ländern «nationale
Lieder», aber ich war froh, kein Sänger zu sein. Und ich bin es noch
heute. Das ist meine Antwort auch für Frage 4.
145
5. Gerade diese nationalen Lieder sind eine Art Reklame. Aber es
gibt noch eine Kunst der Reklame - für die beste Schokolade der
Welt, für die Büstenhalter und die Zigaretten «Balto».
6. Die Kunst leistet einen Dienst, ohne jeden Zweifel, aber nicht
dem «aktuellen Leben». Es ist ein Dienst am Geist - hauptsächlich
heute, wo der Geist nichts anderes als das fünfte Rad am Wagen ist:
einmal, später, wird man dieses fünfte Rad nötig haben.
7. Außer der schrecklichen wirtschaftlichen Krise existiert heute noch
eine weit schrecklichere Krise - das ist die Krise des Geistes. Der
Grund dieser Krise ist die Propagierung engster materialistischer
Ideen. Eines der gefährlichsten Resultate dieser Propagierung ist das
wachsende Interesse für die Manifestationen des Geistes. So auch
das wachsende Interesse für die Kunst. Hier findet sich die Erklärung
für eine verderbliche Tatsache: Die Kunst ist aus dem «Leben» ge-
stoßen worden. Und gleichfalls für den Versuch, die Kunst zu
«retten», indem man sie zwang, «in den Dienst des aktuellen Lebens»
zu treten. Hierin sehe ich die einzige Kunstkrise in unseren düsteren
Tagen. Aber die Kunst wird Siegerin bleiben.
8. Ein kurzer oder ein tiefer Blick auf das «Leben» der zivilisierten
Nationen genügt, um heute die Abwesenheit einer wahren Kultur
festzustellen. Die Notwendigkeit und die Aufgabe, jedem mensch-
lichen Wesen Nahrung und befriedigende Lebensumstände zu garan-
tieren, versteht sich von selbst. Aber ein menschliches Wesen, dem
die Befriedigung dieser Seite des Lebens garantiert ist und das
andrerseits der geistigen Kultur beraubt ist, bleibt lediglich eine
Verdauungsmaschine. Aber unter dieser erschreckenden Oberfläche
146
gibt es eine geistige Bewegung, die noch zu wenig sichtbar ist, aber
die der Krise und der Dekadenz ein Ende bereiten wird. Eine der vor-
bereitenden Kräfte dieser «Auferstehung» ist die freie Kunst.
147
w
Berechnung
1935 veranstaltete das Kunstmuseum Luzcrn eine Ausstellung
«These — Antithese— Synthese». Der sorgfaltig redigierte Katalog
enthielt auch einen Text von Kandinsky, in dem erden Vorstellungen
entgegentritt, daß man unter Anwendung der von ihm früher als
möglich und erstrebenswert bezeichneten «Rezeptbücher», - ge-
wissermaßen automatisch, — «Kunst» machen könnte. Auf diesen
Irrtum hinzuweisen, scheint uns auch heute wieder aktuell, be-
sonders seitdem die Flut der abstrakten und konkreten Malerei und
Plastik ein Ausmaß angenommen hat, das eine Besinnung auf das
Wesentliche des Künstlerischen und weniger des Rezeptmäßigen
dringend erfordert. Denn jedes Rezept, unvernünftig verwendet,
erstickt das Werk im Akademismus.
Was ist ein Kochbuch ? Eine geordnete Sammlung von zweckmäßigen
Rezepten.
Was sind Kochrezepte ? Eine Aufzählung von «Elementen» und eine
Angabe der Proportion. Dazu der Werdegang der Zubereitung.
Besteht eine volle Sicherheit, daß das genaue Befolgen dieser Re-
zepte schmackhafte Speisen zur Folge haben wird ? Ein echter Koch
würde über diese Frage lächeln. Ohne «Zunge» geht es nicht.
Ein Bild ist auch eine «Speise», die aus proportionierten Elementen
besteht und eine genaue «Zubereitung» verlangt. Deshalb gibt es
Malbücher.
Es gibt sogar noch mehr. In einigen Fällen gibt es schon heute eine
Möglichkeit, ein echtes Werk zu «zerlegen», was nicht nur amüsant,
sondern nicht selten lehrreich ist. Es ist vielleicht ebenso lehrreich,
wie eine spezielle Wissenschaft, Anatomie genannt, lehrreich ist.
Elemente, Proportionen, Zusammenstellung, die sich zahlenmäßig
ausdrücken lassen. Wie es, denke ich, jede Erscheinung zuläßt.
149
Fragen Sie aber besser keinen Anatomen, ob man mit anatomischen
Angaben - Elemente, Proportion, Aufbaugesetze - einen leben-
digen Menschen herstellen könnte.
Ich ziehe vor, vom Kosmos und kosmischen Gesetzen nicht zu reden.
Daß Kunstwerke Zahlenausdrücke bekommen könnten (und mit der
Zeit dies immer leichter zu erreichen sein wird), bedeutet nur, daß
unsere Kunsturteile nicht ganz «aus der Luft gegriffen» werden, son-
dern daß sie eine natürliche und eine natürlich-begründete Unterlage
haben. Speziell der deutsche Ausdruck «es sitzt» läßt diese Unterlage
durchblicken.
Auf die Frage, warum denn «neue Kunstrichtungen» stets abgelehnt
werden (und wie temperamentvoll manchmal!) ist die Antwort
leicht: weil das auf die früheren «Rezepte» eingestellte Auge nicht
gleich die neuentdeckten «Rezepte» aufzunehmen vermag. Es muß
Zeit zur Neueinstellung haben. Das könnte ich «Augenkonservatis-
mus» nennen. Zum Schluß möchte ich dem Absender (Künstler) und
dem Empfänger (Kunstliebhaber) warmherzig raten, das Denken und
das Fühlen voneinander zu halten.
Wie alle Rezepte der Welt es nie allein zu einem Werk bringen können,
so können sie auch nicht das für das «Kunstverständnis» unbedingt
notwendige Gefühl ersetzen. Der Kopf ist keine schlechte Einrich-
tung.
Aber ein «gefühlloser» Kopf ist schlechter als ein «kopfloses» Ge-
fühl. Wenigstens in der Kunst.
150
fetf
Die Kunst von heute ist lebendiger denn je
«Die Kunst von heute ist lebendiger denn je» ist für No 1-4/
1935 der Zeitschrift Cahiers d'Art, Paris, auf eine Umfrage ihres
Herausgebers Christian Zervos geschrieben. Konzentriert stellt
hier Kandinsky die Entwicklung seiner Kunst und ihren Sinn dar.
Alle die durch diese Rundfrage aufgeworfenen Fragen sind legitime
Kinder der Krise, nicht der bewegenden Wirtschaftskrise, die nur die
Folge einer tieferen Krise ist, sondern der Geisteskrise.
Diese Geisteskrise ist ihrerseits ein Resultat des Kampfes zweier
sich heute messender Kräfte: des Materialismus einerseits, der sich
seit dem 19. Jahrhundert in allen Richtungen ausbreitet, und der
Synthese andrerseits.
Im Jahre 1910 schrieb ich: «Der Alpdruck der materialistischen Ideen,
die aus dem kosmischen Leben ein schlechtes Spiel ohne Ziel machen,
ist noch nicht zu Ende. Die groben Gefühle wie die Furcht, die
Freude, die Traurigkeit undsoweiter, werden den Künstler nicht
mehr interessieren. Er wird versuchen, feinere und unaussprech-
lichere Gefühle zu erwecken, Gefühle und Erregungen, die tat-
sächlich so subtil sind, daß sie unsere Sprache nicht auszudrücken
vermöchte. Jede Kunst hat ihre Wurzeln in ihrer Zeit, aber die höhere
Kunst ist nicht nur ein Echo und ein Spiegel dieser Epoche; sie be-
sitzt zudem eine prophetische Kraft, die weit und tief in die Zukunft
reicht.»
Das Drama, dem wir seit einiger Zeit beiwohnen, zwischen dem
absterbenden Materialismus und den Anfängen einer Synthese, die
152
versucht, die vergessenen Beziehungen der kleinen Phänomene unter
sich und die Beziehungen zwischen diesen und den großen Prinzipien
wiederzuentdecken, wird uns endgültig zum kosmischen Fühlen
führen : «Die Musik der Sphären».
Der Weg der zeitgenössischen Wissenschaft ist bewußt oder un-
bewußt synthetisch. Tag für Tag fallen die Schranken zwischen
scheinbar verschiedenen Wissenschaften etwas mehr.
Dieser Weg ist auch für die Kunst unvermeidlich. Es sind schon
viele Jahre her, daß ich versuchte, die Anfänge einer Synthese in der
Kunst sichtbar zu machen. Wenn uns eine tiefere Prüfung der Künste
zeigt, daß jede einzelne eigene Mittel verwendet, um sich auszudrük-
ken, so zeigt eine solche Prüfung gleichzeitig die Verwandtschaft auf,
die zwischen allen Künsten - in dem, was ihre ursprünglichen Ab-
sichten betrifft - besteht. Jede Kunst besitzt ihre persönlichen Kräfte,
und es ist unmöglich, die Mittel der einen bei einer anderen anzu-
wenden, auf eine andere zu übertragen, beispielsweise von der Ma-
lerei auf die Musik. Aber wTenn man im selben Werk die Mittel ver-
schiedener Künste anwendet, kommt man zur monumentalen Kunst.
Man soll der Jugend nie «tadellose Rezepte» vorlegen noch gewalt-
sam verordnen. Solche Rezepte drängen ausschließlich zur Nach-
ahmung. Die Jugend hat aber eine Erziehung im synthetischen
Sinne nötig. Wenn sie einmal dazu gelangt, wenn vorerst auch nur
leise, die «Musik der Sphären» zu hören, wird ihr kein Rezept mehr
gefährlich werden können.
Unter den verschiedenen Stimmen der «Musik der Sphären» nimmt
man diejenigen vergangener Zeiten, vor allem diejenigen großer
153
Epochen, auf. Was die Jugend sollte, ist, den Geist dieser Epochen
erforschen. Ihre Formen sollte sie beiseitelassen. Diese waren einst
notwendig und unumgänglich, soweit sie Ausdrucksmittel des Geistes
einer Epoche waren. In den Händen der heutigen Jugend sind sie
inhaltslos. Es gibt modern und «modern». Der moderne Mensch
(sagen wir besser: der Mensch mit gesundem Geist) arbeitet mit an
der Erschaffung der Synthese. Der «moderne» Mensch aber bleibt -
mangels Intuition und dank seiner «Intelligenz» - der Außenseite
des Lebens verbunden. Er steht mit beiden Beinen im realen Leben.
Deshalb hat er den Kontakt mit dem Leben verloren. Von da kommt
seine Enttäuschung und die Notwendigkeit, sich zu betäuben. Soll
sich der Künstler nach ihm ausrichten ?
Wenn er verlangt, mit dem Kopf zu «verstehen», was dem Gefühl
zugänglich ist, muß er jeglichen Sinn verdrehen. Wenn ein «einfacher»
Mann (Arbeiter oder Bauer) sagt: «Ich verstehe nichts von dieser
Kunst, aber ich fühle mich wie in einer Kirche», so beweist er da-
durch, daß sein Kopf noch nicht in Unordnung ist. Er versteht nicht,
aber er empfindet.
Ein Arbeiter sagte einmal: «Wir wollen keine spezielle für uns ge-
machte Kunst, aber wir wollen eine wahre, freie Kunst, die große
Kunst».
Für den Künstler gibt es tatsächlich nur ein Rezept: die Ehrlichkeit.
Der Mensch kann nicht auf die Umwelt verzichten, er wüßte nicht
wie, aber er kann sich vom Gegenstand befreien. Das ist eine Frage,
über die mich weiter auszulassen, ich mir gestatte, denn sie ist die
Hauptfrage der Malerei von heute und morgen.
154
Die Behauptung, daß die Wahl des Gegenstandes keine Rolle spiele
in der Malerei («Der Gegenstand betrachtet als ein Vorwand zum
Malen»), basiert auf einem Irrtum. Ein weißes Pferd oder eine weiße
Gans rufen ganz verschiedene Erregungen hervor. Man hat in diesem
Fall : weiß -f Pferd, oder weiß + Gans.
Das «isolierte» Weiß ruft eine Erregung hervor, einen «inneren Ton».
Und so auch das Pferd und die Gans. Aber die beiden letzteren Er-
regungen sind gänzlich verschieden. Weiße Wolke. Weißer Hand-
schuh. Weiße Fruchtschale. Weißer Schmetterling. Weißer Zahn.
Weiße Mauer. Weißer Stein. Sie sehen, daß in jedem Fall das
Weiß ein sekundäres Element ist. Es kann für den Maler ein Haupt-
element sein, im Sinne von Farbe, aber in allen diesen Fällen ist es
seinerseits gefärbt vom «inneren Ton» des Gegenstandes. Der Gegen-
stand spricht in allen Fällen mit deutlicher Stimme, die nicht zu unter-
drücken ist. Es ist nicht zufällig, daß die kubistischen Maler mit
Ausdauer musikalische Gegenstände und Instrumente gemalt haben :
Guitarre, Mandoline, Piano, Noten undsoweiter. Diese sicher un-
bewußt getroffene Wahl war diktiert durch die Annäherung von Musik
und Malerei.
Es ist ebenfalls nicht zufällig, wenn man zur selben Zeit anfing, Aus-
drücke wie «malerisch» für ein Musikwerk und «musikalisch» für ein
Werk der Malerei zu verwenden.
Es ist ein Irrtum, zu behaupten, daß ein einziger Ton oder eine
einzige Farbe keine Erregung hervorrufe. Aber diese Erregungen
sind zu begrenzt oder zu «einfach», oder zu «arm», und schließlich
auch zu vorübergehend.
155
Das ist eine statische Tatsache. Das dynamische Moment beginnt mit
dem Nebeneinandersetzen von mindestens zwei Erregungen: Ele-
menten, Farben, Linien, Tönen, Bewegungen undsoweiter. (Der
«Kontrast»!) «Zwei innere Töne.» Hier ist die kleine Wurzel der
Komposition zu suchen.
Die Frage ist in der Malerei komplizierter als in der Musik. In der
Musik ist der reine Ton (hervorgerufen durch Elektrizität), das
heißt der durch kein bestimmtes Instrument gefärbte Ton, und
selbst der durch ein bestimmtes Instrument (Piano, Hörn, Violine)
gefärbte, durch sich selbst «begrenzt». Der selbe Ton kann stark
oder schwach sein, lang oder kurz, aber er verlangt keine Grenzen wie
die Farbe auf einer Fläche.
Wenn es nicht die «inneren Töne» des Gegenstandes gäbe, würde die
Frage der abstrakten Begrenzungen oder der durch einen Gegenstand
gegebenen Grenzen nicht existieren. Meiner Ansicht nach läßt die
geometrische Begrenzung der Farbe eine größere Möglichkeit, eine
reine Vibration hervorzurufen, als die Grenzen eines beliebigen
Gegenstandes, die immer viel aufdringlicher und beengender reden,
dadurch daß sie eine ihnen eigene Erregung hervorrufen (Pferd,
Gans, Wolke . . .). Die «geometrischen» oder «freien» Grenzen, die
nicht an einen Gegenstand gebunden sind, rufen, wie die Farben,
Erregungen hervor, die aber weniger präzis festgelegt sind als die-
jenigen eines Gegenstandes. Sie sind freier, elastischer, «abstrakter».
Diese abstrakte Form hat weder einen Bauch wie das Pferd noch
einen Schnabel wie die Gans. Wenn sie ihrer plastischen Idee einen
Gegenstand unterordnen wollen, müssen sie im allgemeinen dessen
156
natürliche Grenzen ändern und beschränken. Um ein Pferd zu ver-
längern, müssen sie es am Kopf oder Schwanz ziehen. Das ist, was
ich früher machte, bevor ich in mir die Möglichkeit fand, mich vom
Gegenstand zu befreien.
Aber wie ein Musiker seine Empfindungen vom Sonnenaufgang
wiedergeben kann, ohne die Töne eines krähenden Hahnes zu ver-
wenden, so hat der Maler rein malerische Mittel, um seine Eindrücke
des Morgens «einzukleiden», ohne daß er einen Hahn malen muß.
Dieser Morgen, oder sagen wir die ganze Natur, das Leben und die
ganze den Künstler umgebende Welt, sowie das Leben seiner Seele,
sind die einzige Quelle jeder Kunst. Es ist zu gefährlich, den einen
Teil (das äußere, um den Künstler herum existierende Leben) oder
den andern Teil dieser Quelle (das innere Leben) zu unterdrücken.
Ja es ist gefährlicher, als einem Menschen ein Bein abzunehmen,
weil dieses durch ein Holzbein ersetzt werden kann. Hier aber
schneidet man mehr ab als das Bein. Man beschneidet das Leben an
seiner eigenen Schöpfungskraft. Der Maler «ernährt» sich von
äußeren Eindrücken (äußeres Leben). Er wandelt sie um in seiner
Seele (inneres Leben). Die Wirklichkeit und der Traum - ohne es
zu wissen. Das Resultat ist ein Werk.
Das ist das allgemeine Gesetz der Schöpfung. Die Unterschiede
zeigen sich nur in den Ausdrucksmitteln (inneres Leben) der «Er-
zählung» - ob mit oder ohne Hahn.
Im allgemeinen haben alle Künstler (nicht die «Künstler») den ersten
Teil der Quelle gemeinsam (die Erregung des äußeren Lebens).
(Es gibt aber keine Regel ohne Ausnahme, wohlverstanden!) Sie
157
unterscheiden sich im zweiten Teil (inneres Leben) und dann in den
Ausdrucksweisen. Warum denn also rufe ich, ich als «abstrakter»
Maler : «Es lebe der Hahn ! » - und die Gegenpartei : «Tod dem Dreieck ! » ?
Wie es schon ziemlich lange eine Musik mit Worten gibt (ich spreche
allgemein), das Lied und die Oper, und eine Musik ohne Worte, die
rein sinfonische Musik oder die «reine» Musik, so gibt es gleichfalls,
seit 25 Jahren, eine Malerei mit und ohne Gegenstand.
Meiner Ansicht nach legt man der Formfrage zuviel Bedeutung bei.
Ich habe vor bald 25 Jahren geschrieben: «Im Prinzip gibt es keine
Formfrage» (Der Blaue Reiter). Die Frage der Form ist immer per-
sönlich, also relativ. Der Mensch ist - wohlverstanden - der Ver-
gangenheit, der Gegenwart und der Zukunft verbunden. Nur einige
«Konstruktivisten» haben proklamiert, «daß es weder ein Gestern, noch
ein Morgen gäbe, sondern nur das Heute». Meinetwegen!
Und es ist nicht die Form, welche die natürliche Beziehung mit der
Vergangenheit begründet, sondern die innere Verwandtschaft ge-
wisser vergangener Epochen.
Ein Dreieck ruft eine lebhafte Erregung hervor, weil es selbst ein
lebendiges Wesen ist. Es ist der Künstler, der es tötet, nämlich dann,
wenn er es mechanisch, ohne inneres Diktat verwendet. Es ist derselbe
Künstler, der auch den Hahn tötet. Aber so wenig wie eine «isolierte»
Farbe, so wenig genügt auch ein «isoliertes» Dreieck nicht für ein
Kunstwerk. Das Gesetz des «Kontrastes»! Man vergesse dennoch
nicht die Kraft dieses bescheidenen Dreiecks. Es ist bekannt, daß
wenn man auf ein Blatt weißes Papier ein Dreieck zeichnet - selbst
mit sehr feinen Linien -, das Weiß außerhalb des Dreiecks sich gegen-
158
über dem Weiß innerhalb des Dreiecks verändert. Die beiden Weiß
erhalten verschiedene Farben, ohne daß man dazu Farbe verwendet.
Das ist gleichzeitig eine physikalische und eine psychologische Tat-
sache. Und mit dieser Farbänderung ändert sich auch der« innere Ton».
Wenn sie jetzt noch eine Farbe zu diesem Dreieck hinzufügen, ver-
mehrt sich die Summe der Erregungen in einer geometrischen Pro-
portion. Es ist keine Addition mehr, sondern eine Multiplikation.
Ich habe einmal ein Bild gemalt, das aus einem einzigen roten Dreieck
komponiert war und das, sehr bescheiden, von Farben ohne «Gren-
zen» (sehr ungenauen Formen) umgeben war, und ich habe oft be-
merkt, daß diese «ärmliche» Komposition etwas hervorruft beim
Betrachter, der «die avantgardistische Malerei nicht versteht». Ohne
Zweifel genügten mir diese sehr begrenzten Mittel nicht immer, und
ich liebe auch die Kompositionen, die recht kompliziert und «reich»
sind. Das hängt vom Ziel der gegebenen Komposition ab.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, füge ich bei, daß meiner An-
sicht nach, der Maler sich wegen dieses Ziels nie beunruhigt, oder,
um es besser auszudrücken, er kennt es nicht, wenn er ein Bild macht.
Sein Interesse ist ganz der Form zugewendet. Das Ziel bleibt im
Unterbewußten und führt die Hand. Indem der Maler ein Bild macht,
«hört» er immer «eine Stimme», die ihm einfach «richtig» oder «falsch»
sagt. Wenn die Stimme zu undeutlich wird, muß der Maler seine
Pinsel auf die Seite legen und warten.
Von diesem allgemeinen Gesetz der Gleichheit der Quelle jeder
Kunst (um mich und in mir) gibt es eine Ausnahme, die Mißver-
ständnisse und verderbliche «Vermengungen» hervorgerufen hat.
159
Ich spreche von den «Konstruktivisten», deren Mehrheit behauptet,
daß die impressionistischen Erregungen, die der Künstler von außen
empfängt, nicht nur unnütz seien, sondern bekämpft werden müßten.
Sie sind, nach diesen Künstlern, «Reste der bürgerlichen Sentimen-
talität» und müssen ersetzt werden durch die reine Absicht des mechani-
schen Prozesses. Sie versuchen «errechnete Konstruktionen» zu
machen und wollen das Gefühl unterdrücken, nicht nur bei sich
selbst, sondern auch beim Betrachter, um ihn von der bürgerlichen
Psychologie zu befreien, um aus ihm einen «Menschen der Wirklich-
keit» zu machen.
Diese Künstler sind in Wahrheit Mechaniker (also geistig begrenzte
Kinder «unseres Jahrhunderts der Maschine»), die jedoch Mechanis-
men produzieren, die sich nicht bewegen: Lokomotiven, die sich
nicht rühren, und Flugzeuge, die nicht fliegen. Das ist «L'art pour
Fart», aber zur letzten Grenze getrieben und sogar darüber hinaus.
Das ist auch der Grund, weshalb der größte Teil der «Konstrukti-
visten» sehr bald aufgehört hat zu malen. (Einer von ihnen hat
proklamiert, daß die Malerei nur die Brücke zur Architektur sei. Er
hat vergessen, daß es extreme avantgardistische Architekten gibt, die
nicht aufhören, gleichzeitig zu malen.) Wenn der Mensch beginnt,
Dinge zu machen ohne Ziel, so endet er durch Selbstzerfall (innerlich
wenigstens) oder produziert zum Tod verurteilte Dinge.
Schließlich ist das der Grund dafür, wenn ein «abstrakter» Maler
dem gemeinsamen Gesetz der Kunst unterstehen kann (der gemein-
samen und einzigen Quelle) oder er eine Ausnahme machen will.
Es ist ein Fehler unserer «Terminologie», nicht zu unterscheiden
160
zwischen diesen beiden Arten «abstrakter» Künstler. Man sollte,
da es unmöglich ist, Etiketten zu vermeiden (die bequem sind, um
sich zu verständigen, und verderblich, wenn man nicht sondiert, was
hinter ihnen verborgen ist) eine exaktere Terminologie konstruieren
und nicht die Tatsachen «klassieren» nach ihren äußeren Erschei-
nungen, sondern nach der inneren Verwandtschaft. In diesem Fall
sollte man zwei Etiketten machen statt einer und sie voneinander
unterscheiden. Hier sind sie :
1. Abstrakter Künstler.
2. Konstruktivistischer Künstler (oder, wenn man will, «zielloser»
Künstler).
Wenn ein Künstler «abstrakte» Mittel anwendet, so heißt das noch
nicht, daß er ein «abstrakter» Künstler sei. Das heißt sogar nicht ein-
mal, daß er ein Künstler sei. Und, wie es genügend tote Dreiecke
gibt (seien sie weiß oder grün), so gibt es nicht weniger tote Hähne,
tote Pferde und tote Guitarren. Man kann ebenso leicht ein «realisti-
scher Pompier» wie ein «abstrakter Pompier» sein.
Die Form ohne Inhalt ist nicht eine Hand, sondern ein leerer Hand-
schuh, gefüllt mit Luft.
Der Künstler liebt die Form leidenschaftlich, wie er seine Instrumente
liebt oder den Geruch des Terpentins, weil diese mächtige Mittel
sind im Dienste des Ausdrucks.
Aber dieser Inhalt ist nicht, wohlverstanden, eine literarische Er-
zählung (die, allgemein, Teil eines Bildes sein kann oder auch nicht),
sondern die Summe der Erregungen, die durch die rein malerischen
Mittel hervorgerufen werden.
161
(Ein Mittel, um sie zu erkennen : wenn die literarische Erzählung die
malerischen Mittel überwiegt, läßt einen eine Schwarzweiß-Repro-
duktion nicht schmerzlich das Fehlen der Farbe vermissen. Wenn
aber, im Gegensatz dazu, der Inhalt rein malerisch ist, so ist dieser
Mangel eben schmerzhaft.)
Schließlich entstammt die Kunst nie nur dem Kopf allein. Wir
kennen große Malerei, die einzig dem Herzen entsprungen ist. Im
allgemeinen ist das ideale Gleichgewicht zwischen Kopf (Bewußtseins-
Moment) und Herz (Unbewußtseins-Moment, Intuition) ein Gesetz
der Schöpfung, ein Gesetz so alt wie die Menschheit.
162
\A
Linie und Fisch
«Linie und Fisch» ist in der Zeitschrift Axis No 2/1935 in London
erschienen. Hier zeigt Kandinsky, daß ein Fisch und eine Linie,
das heißt jeder einzelne «Gegenstand» für sich, seine eigene Reali-
tät besitzt.
Einerseits sehe ich keinen wesentlichen Unterschied zwischen einer
sogenannten «abstrakten» Linie und einem Fisch.
Aber eine wesentliche Ähnlichkeit.
Diese isolierte Linie wie auch der isolierte Fisch sind lebendige
Wesen mit ihnen eigenen Kräften - verborgenen Kräften. Es sind
Kräfte des Ausdrucks für diese Wesen und Kräfte des Eindrucks für
die menschlichen Wesen. Weil jedes Wesen ein beeindruckendes
«Gesicht» hat, das sich durch seinen Ausdruck manifestiert. Aber die
Stimme dieser verborgenen Kräfte ist schwach und begrenzt.
Es ist die Umgebung der Linie und des Fisches, die das Wunder
zustandebringt, daß die verborgenen Kräfte erwachen, der Ausdruck
strahlend wird und der Eindruck tief. Statt einer schwachen Stimme
hört man einen Chor. Die verborgenen Kräfte sind dynamisch ge-
worden.
Die Umgebung ist die Komposition.
Die Komposition ist die organisierte Summe von inneren Funk-
tionen (Ausdrücken) aller Teile des Werkes.
Aber von einer anderen Seite gesehen, wird der Unterschied zwischen
der Linie und dem Fisch wesentlich. Es ist der, daß der Fisch schwim-
men, essen und gegessen werden kann. Er besitzt also Fähigkeiten,
von denen die Linie ausgeschlossen ist.
164
Aber diese Fähigkeiten des Fisches sind notwendige Zugaben für den
Fisch selbst wie für die Küche, nicht jedoch für die Malerei. Und
da sie nicht notwendig sind, sind sie überflüssig.
Das ist der Grund, warum ich die Linie dem Fisch vorziehe - wenig-
stens in meiner Malerei.
165
I*
<\
Leere Leinwand undsoweiter
Kandinsky war 1933 von Berlin nach Neuilly s/Scinc bei Paris
übergesiedelt und hatte 1934 eine Ausstellung in der Galeric
Cahiers d' Art - seine erste Ausstellung in Paris 1
In No 5/1935 von Cahiers d'Art, Paris, erschien nach dem langen
Exkurs, der in No 1-4 abgedruckt war, eine fast poetische Deu-
tung der Elemente, die Kandinsky als Grundlage für seine Malerei
gewählt hatte. Der nun fast Siebzigjährige war in Paris heimisch
geworden.
Leere Leinwand. Scheinbar: wirklich leer, schweigend, indifferent.
Fast stumpfsinnig. Tatsächlich: voll Spannungen mit tausend leisen
Stimmen, erwartungsvoll. Etwas erschrocken, da sie vergewaltigt
werden kann. Aber fügsam. Sie tut gern, was man von ihr verlangt,
bittet nur um Gnade. Sie kann alles tragen, aber nicht alles ver-
tragen - sie verstärkt das Richtige, aber auch das Falsche. Und dem
Falschen verzehrt sie unbarmherzig das Gesicht. Sie verstärkt die
falsche Stimme zum grellenden Gebrüll - unmöglich zu ertragen.
Wunderbar ist die leere Leinwand - schöner als manche Bilder.
Einfachste Elemente. Gerade Linie, gerade schmale Fläche: hart, un-
entwegt, sich rücksichtslos behauptend, scheinbar «selbstverständ-
lich» - wie das bereits erlebte Schicksal. So und nicht anders. Ge-
bogene, «freie»: vibrierend, ausweichend, nachgebend, «elastisch»,
scheinbar «unbestimmt» - wie das uns erwartende Schicksal. Es könnte
anders werden, wird aber nicht.
Hartes und Weiches. Die Kombinationen von beiden - unendliche
Möglichkeiten.
Jede Linie sagt «ich bin da!» Sie behauptet sich, zeigt ihr sprechendes
167
Gesicht - «horcht! Horcht auf mein Geheimnis!». Wunderbar ist
eine Linie.
Ein kleiner Punkt. Viele kleine Pünktchen, die hier noch etwas,
etwas kleiner sind und dort etwas, etwas größer. Alle haben sie sich
hineingebohrt, bleiben aber beweglich - viele kleine Spannungen,
die im Chor ständig wiederholen «horcht! horcht!». Kleine Mittei-
lungen, die sich im Chor verstärken - zum großen «ja».
Schwarzer Kreis - entfernter Donner, eine Welt für sich, die sich
scheinbar um nichts kümmert, ein Sich-Insich-Hineinziehen, ein
Abschluß auf der Stelle. Ein langsam kühlgesagtes «Ich bin da».
Roter Kreis - sitzt fest, behauptet seine Stelle, ist in sich vertieft.
Aber gleichzeitig wandert er, da er alle übrigen Stellen für sich haben
möchte - so strahlt er über alle Hindernisse bis in die weiteste Ecke.
Blitz und Donner zusammen. Leidenschaftliches «Ich bin da!»
Wunderbar ist der Kreis.
Das Wunderbarste ist aber: alle diese Stimmen mit noch vielen,
vielen andern (es gibt tatsächlich viel Formen und Farben) zu einer
einzigen zu summieren - das ganze Gemälde ist zu einem einzigen
«Ich bin da» geworden.
Beschränkung, «Geiz», toller Reichtum, «Verschwendung», Donner-
knall, Mückengesumm. Alles,was dazwischen liegt. Jahrtausendewaren
eine knappe Zeitspanne um bis an den Boden, an die letzte Grenze
der Möglichkeiten zu kommen. Der Boden ist überhaupt nicht da.
Seit bald 25 Jahren unterhalte ich mich mit diesen «abstrakten»
Dingen. Schon vor dem Krieg habe ich den Donnerknall und das
Mückengesumm geliebt und verwendet. Die Stimmgabel war aber
168
«Dramatik». Explosionen, zusammenprallende Flecke, verzweifelte
Linien, Ausbruch, Dröhnen, Auseinanderfliegen - Katastrophen.
Die sämtlichen Elemente, die Konstruktion und selbst die technische
Art bis zum einzelnen Pinselstrich waren diesem Zweck «Dramatik»
unterordnet. Verlorenes Gleichgewicht, aber kein Untergang. Überall
Vorahnung des Auferstehens - bis zur kühlen Ruhe.
Von Anfang 1914 stieg in mir der Wunsch der «kühlen Ruhe» -
Starres wollte ich nicht, aber Kühles, sehr Kühles. Manchmal Eis-
kaltes. Sozusagen umgekehrte chinesische Kuchen, die glühendheiß
sind und innen Gefrorenes verstecken. Umgekehrtes wollte ich (und
habe es noch heute so gern!) - in eiskalter Hülse glühend heiße «Fül-
lung».
Verschleierung. Es gibt übertausende von Verschleierungen. Schon
1910 habe ich die «dramatische Komposition» durch «liebenswürdige»
Farben verschleiert. Das geschieht unbewußt, daß man einem «bit-
teren» Knall etwas «Süßes» gegenüber stellt, dem «Heiß» etwas
«Kühles», in das «Positive» etwas «Negatives» hineintropft.
In meiner «kalten» Periode bremste ich nicht selten glühende Farben
durch harte, kühle, «nichtssagende» Formen. Es fließt manchmal
unter dem Eis kochendes Wasser - die Natur «arbeitet» mit Gegen-
sätzen, ohne die sie flach und tot wäre. Ebenso die Kunst, die nicht
nur der Natur verwandt ist, sondern sich ihren Gesetzen mit Freude
fügt. Sich diesen Gesetzen zu fügen, ihre weise Weisung zu erraten -
ist die größte Freude des Künstlers.
Sich fügen heißt Rücksicht zu nehmen. Jeder neue Farbfleck, der
in der Arbeit auf die Leinwand kommt, fügt sich den früheren -
169
auch in seinem Widerspruch ist er ein neues Steinchen zum großen
Aufbau des «Ich bin da».
Man wird eigentlich viel mehr «mißverstanden» als «verstanden».
Dies habe ich oft erlebt, aber nie so deutlich als zu meiner «kalten»
Periode, zu der auch mancher Freund mir den Rücken zeigte. Ich
wußte aber, daß das Eis (nicht meiner Bilder, sondern das des Miß-
verstehens) einmal schmelzen würde. Vielleicht ist es heute schon
etwas geschmolzen. Die Zeit reißt die Menschen mit. Was aber zu
schnell wächst, vertrocknet noch schneller - ohne Tiefe gibt es
keine Höhe.
Nach diesem Sprung (der bei mir durch die Zeitlupe zu sehen ist)
aus einer «Extravaganz» in die andre veränderte sich wieder mein
«Wunsch», das heißt der Sinn der inneren Kraft, die mich nach
vorwärts stößt. Was ich aber heute wünsche, ist nicht so einfach
darzulegen, wie es mit den früheren Wünschen der Fall war (wenn er
es war).
Eigentlich verändert man sich nicht. Das heißt die Veränderung ist
im Glücksfalle die, dass man immer besser lernt, gleichzeitig hinauf-
und herunterzusteigen - gleichzeitig nach «oben» (in die «Höhe»)
und nach «unten» (in die «Tiefe»). Dieses Können hat immer be-
stimmt zur natürlichen Folge das Sichausbreiten, eine feierliche Ruhe.
Man wächst zu allen Seiten.
Jedenfalls ist mein Wunsch heute «breiter! breiter!» Polyphonie wie
es der Musiker sagt. Gleichzeitig: Verbindung von «Märchen» und
«Realität». Nicht die äußere Realität - Hund, Schüssel, entblößte
Frau - sondern die «materielle» Realität der malerischen Mittel, der
170
«Werkzeuge». Diese Realität verlangt die vollkommene Umänderung
der Ausdrucksmittel, wozu auch die technischen Mittel gehören. Ein
Bild ist restlose Einheitlichkeit der sämtlichen Mittel. Nicht das
Märchen von «Siebenmeilenstiefeln» oder vom «Dornröschen» und
nicht «gegenständliche» Phantastik brauche ich, sondern das rein
malerische Märchen, das nur und ausschließlich die Malerei allein
«erzählen» kann - durch ihre «Realität». Inneres Zusammenhalten
durch äußres Auseinandergehen, Verbinden durch Auflösen und
Zerreißen. In Unruhe Ruhe, in Ruhe Unruhe. Der «Vorgang» im
Bilde soll nicht auf der Leinwandfläche vorsichgehen, sondern
«irgendwo», im «illusorischen» Raum. Aus der «Unwahrheit» (Ab-
straktion!) soll Wahrheit sprechen. Kerngesunde Wahrheit, die
«Ich bin da» heißt.
Ich sehe aus meinem Fenster. Manche kalte Fabrikschornsteine
stehen schweigend da. Sie sind unbiegsam. Ganz plötzlich steigt aus
einem einzigen Schornstein der Rauch. Der Wind biegt ihn und er
ändert jeden Augenblick seine Farbe. Die ganze Welt hat sich ver-
ändert.
171
Abstrakte Malerei
Für die Kronick van Hedendaagse Kunst en Ku/tuur, Amsterdam,
schrieb Kandinsky 1935 eine längere Abhandlung über «Ab-
strakte Malerei». Interessant ist hier vor allem, daß sich Kandinsky
mit der Klassierung der sogenannten «abstrakten» Kunst befaßt,
daß er Ausdrücke wie «gegenstandlos», «abstrakt», «absolut»
schon ablehnt und vorschlägt, diese durch «reale Kunst» zu er-
setzen. Bemerkenswert ist auch, daß er sich hier mit den «Ismen»
auseinanderzusetzen sucht. Es scheinen ihm diese Probleme vor
allem auch auf Grund der Ignoranz des Pariser Kunstbetriebes
klar geworden zu sein. Die französischen Zitate aus Cahiers cT Art
sind im vorangehenden Text enthalten : «Die Kunst von heute ist
lebendiger denn je».
Der Ausdruck «Abstrakte Kunst» ist nicht beliebt. Und das mit
Recht, da er wenig sagend ist, oder mindestens verwirrend wirkt.
Deshalb versuchten die Pariser abstrakten Maler und Bildhauer einen
neuen Ausdruck zu schaffen : sie sagen «art nonfiguratif».
Gleichbedeutend mit dem deutschen Ausdruck «gegenstandslose
Kunst». Die Negationsteile dieser Worte («non» und «los») sind nicht
geschickt: sie streichen den «Gegenstand» und stellen nichts an seine
Stelle. Schon seit längerer Zeit versuchte man (was auch ich noch vor
dem Krieg tat) das «abstrakt» durch «absolut» zu ersetzen. Eigentlich
kaum besser. Der beste Name wäre meiner Meinung nach «reale
Kunst», da diese Kunst neben die äußere Welt eine neue Kunstwelt
stellt, geistiger Natur. Eine Welt, die ausschließlich durch Kunst ent-
stehen kann. Eine reale Welt. Die alte Bezeichnung «abstrakte Kunst»
hat sich aber bereits eingebürgert.
Meiner Meinung nach sind die Bezeichnungen «Impressionismus»
oder «Kubismus» nicht mehrsagend und ebenso oft verwirrend. Sie
172
sind aber bereits historisch geworden, gehören zu anerkannter Klassi-
fizierung und damit zu unantastbaren Erscheinungen.
Es ist eigenartig, daß der Kubismus ebenso alt (oder jung) wie die
abstrakte Malerei ist und trotzdem bereits «historisch» und unan-
tastbar wurde. Weder sein Wesen noch sein Name werden heute be-
kämpft. Besonders ein «fortschrittlicher» Kunsttheoretiker würde nie
den Mut aufweisen, ihn zu überfallen. Es ist vielleicht deshalb, weil
der Kubismus in seiner reinsten Form von kurzer Dauer war und
sich sehr schnell erschöpfte, und «de mortuis aut bene aut nihil».
Wie oft versuchte man auch die abstrakte Malerei zu begraben und
wie oft wurde ihr endgültiger Tod prophezeit. Zum Entsetzen dieser
Propheten gibt es heute eine neue abstrakte Generation in vielen
Ländern. Ich erlaube mir dabei zu erwähnen, daß ich mein erstes
abstraktes Bild 1911 malte, also vor 24 Jahren. Es war auch ungefähr
das Geburtsjahr des Kubismus. Diese Zeit war der Anfang vieler
«Explosionen» in der Kunst - denken Sie bitte an die unzähligen
«Ismen», die meist sehr bald verschwanden und vergessen wurden
(Dadaismus, Purismus, Expressionismus, Suprematismus, Maschi-
nismus und noch viele, viele andre). Die andren sind, wie gesagt,
katalogisiert worden.
So ist die abstrakte Malerei eine lebende, lebensvolle Erscheinung,
die der Klassifizierung und der Katalogisierung entging - glück-
licherweise.
Die immer noch nicht aufhörende (manchmal haßerfüllte) Bekämp-
fung dieser Kunst ist der beste Beweis ihrer Lebenskraft und Bedeu-
tung. Ich bin sicher, daß diese Lebenskraft und Bedeutung ihrerseits
173
die besten Beweise dafür sind, daß die abstrakte Kunst nicht nur die
der Gegenwart, sondern auch die der Zukunft ist. Vielleicht mehr die
der Zukunft als die der Gegenwart. In der Gegenwart ist die größte
Masse der Menschen äußerst materialistisch und formalistisch. Und
deshalb rückständig. Die rückständigen Menschen besitzen kein
Organ für die geistige Zukunft. So bleibt ihnen nichts übrig als sich
an die Vergangenheit festzuklammern. Der ewige Irrtum solcher
Menschen ist der, daß sie sich einbilden, dem Geist der Vergangenheit
treu zu bleiben, indem sie nicht dem Geist, sondern der Form treu
bleiben. Von hier der Irrschluß: es hat bis jetzt keine abstrakte Form
in der Kunst gegeben, so kann es auch keine in der Zukunft geben.
Das ist der berühmte «historische» Beweis gegen die abstrakte Kunst.
Ebenso wurde auch seinerzeit «bewiesen», daß es keine Flugzeuge
geben kann. Wenn man auf solche Propheten hören würde, lebte
noch heute die Menschheit in Steinhöhlen.
Außer dem «historischen Beweis» gibt es auch manche andre, die zum
Zweck haben, die Möglichkeit der abstrakten Kunst zu widerlegen.
Ich will sie nennen.
Manche (wirklich ganz naive) «Theoretiker» behaupten, es gäbe
keinen «Qualitätsmesser» für die abstrakte Kunst, das heißt es gäbe
keine Mittel, gute abstrakte Kunst von der schlechten zu unterschei-
den. Diese Behauptung stimmt. Nur stimmt sie nicht nur in bezug
auf die abstrakte Kunst, sondern auf Kunst überhaupt. Es ist all-
gemein bekannt, daß große Künstler nicht selten hungerten und nicht
selten vergessen und in Armut starben, wogegen ganz minderwertige
Maler, Bildhauer, Dichter, Musiker (die man deutsch «Kitschiers«
174
# *
••>>
H'
und französisch «Pompiers» nennt), die oft keine Künstler, sondern
«Künstler» waren (und noch heute sind), Ruhm, allgemeine Bewunde-
rung und Reichtümer zu genießen bekamen. Und weiter: bei allge-
mein und mit Recht anerkannten Künstlern kommt es fortwährend
vor, daß einige Fachmenschen ihre «frühe» Periode weit über die
«spätere» schätzen, und die andren »Sachverständigen» umgekehrt.
Also nicht nur einzelne Werke können mit Bestimmtheit als «gut»
oder «besser» bezeichnet werden, sondern ganze «Perioden», die
ihrerseits wieder aus vielen einzelnen Werken bestehen, für die auch
noch nicht ein «Qualitätsmesser» erfunden wurde. Oder wird ein
Künstler jähre- und jahrelang nicht nur «abgelehnt», sondern ver-
spottet und nur an seinem Lebensabend plötzlich anerkannt und
über alle Berge gehoben (Henri Rousseau zum Beispiel, wenn man an die
letzte Zeit denkt und an einen Fall, den wir alle erlebt haben). Die
Qualitätseinschätzung kennt sonderbare Fälle: es kommt vor, daß
Künstler erst nach mehreren Jahrhunderten «neuentdeckt» werden
(El Greco zum Beispiel). Es kommt auch vor, daß der Titel «des
größten Malers aller Zeiten» heute einem Künstler, morgen einem
andren zugesprochen wird (zum Beispiel Raphael, Giotto, Grüne-
wald undsoweiter). Es kommt ebenso vor, daß eine «Blüteperiode»
plötzlich zu einer «Niedergangsperiode» herabgesetzt wird (zum
Beispiel die «klassische» Zeit der griechischen Plastik).
Es gibt nie einen «Thermometer» für die Messung der Höhe der
Kunst und wird nie einen geben.
Zu oft hört man weiter (jetzt immer seltener), daß die abstrakte Kunst
in ihren Ausdrucksmitteln zu beschränkt und deshalb gezwungen
176
sei, immer dieselben «Motive» oder «Elemente» zu verwenden und
sich deshalb sehr bald «erschöpfe». Von diesem Standpunkt aus
würde man manche große Künstler ablehnen und als «sich wieder-
holende» und deshalb langweilige und ausdrucksarme Nichtkünstler
bezeichnen müssen. Wie wrürde man zum Beispiel Michelangelo
einschätzen müssen, der im Laufe seines langen Lebens ausschließlich
die menschliche Figur verwendete und immer bei derselben Wahl
der (wie manche behaupten «übertriebenen» und «unnatürlichen»)
Muskulatur bleibt. Sollte er nicht als der «langweiligste und
ausdrucksärmste» Bildhauer aller Zeiten gestempelt werden? Von
diesem Standpunkt aus würde man ohne Zweifel Michelangelo
in die berühmte Reihe der Berliner Siegesallee «einklassifizieren»
müssen.
Und die arme Musik! Wie «gefährlich» beschränkt sind ihre Mittel.
Immer und immer dieselben Streich- und Blasinstrumente und nur
ein bißchen Trommel dazu. Wie soll man da Bach von Johann Strauß
unterscheiden ?
«Formalistisch» sein (oder sagen wir deutsch «oberflächlich» sein) ist
eine gefährliche Sache, die unvermeidlich auf Holzwege führt. Und
noch eine «Kanone» gegen die abstrakte Kunst, eigentlich gegen die
abstrakte Malerei: die Farbe könne nur in Verbindung mit einem
«Gegenstand» «lebendig» werden, ohne Gegenstand bliebe sie «tot».
Diese Behauptung könnte nur durch ein «Ehrenwort» bewiesen wer-
den, weil es keine andren Beweise für sie gibt. Ich glaube sogar, daß
die Farbe «an und für sich» immer lebendig ist und daß nur schlechte
Maler die Begabung besitzen sie zu «töten».
177
Zuallerletzt darf auch noch ein «Einwand» gegen die abstrakte
Malerei nicht außer acht gelassen werden, da die Gegner ihn fast nie
vergessen und für einen «niederschmetternden» halten. Man könnte
ihn in eine logische Reihenfolge fassen:
1. Nur die Natur (zu der allerdings auch Gegenstände gerechnet
werden, die der menschlichen Hand oder der Maschine entspringen -
das Material für die «Nature morte» oder «Stilleben») ist befähigt,
dem Maler Anregungen zu geben und seine Intuition zu erwecken.
2. Der abstrakte Maler verwendet die Natur (oder «Natur») nicht
und will ohne sie auskommen. Also :
3. Schließt die abstrakte Malerei die Intuition aus und wird damit
eine «kopfmäßige».
Auf diesen unlogischen Schluß geben einige Worte von mir die
richtige Antwort. Ich erlaube mir, sie in französischer Sprache zu
bringen, so wie ich sie für die «Cahiers d'Art» auf Aufforderung von
Herrn Ch. Zervos geschrieben habe.
«Toute la nature, la vie et le monde entier entourant Partiste, et la
vie de son äme a lui sont la source unique de chaque art. C'est trop
dangereux de supprimer une partie de cette source (vie exterieure
autour de Partiste) ou Pautre (sa vie interieure), meme plus dangereux
que de couper ä un homme une jambe, parce qu'elle peut etre rem-
placee par une jambe artificielle. Ici, on coupe plus que la jambe. On
coupe la vie a sa propre creation. Le peintre se «nourrit» d'impressions
exterieures (vie exterieure), il les transforme dans son äme (vie
interieure), la realite et le reve! sans le savoir. Le resultat est
une oeuvre. Cest la loi generale de la creation. La difTerence se
178
montre seulement dans lcs moyens d'expressions (vie interieure).»
Und etwas weiter: «Comme il existe, depuis deja assez longtemps,
une musique avec paroles (je parle generalement), la chanson et
l'opera, et une musique sans paroles, la musique purement sympho-
nique, ou la musique «pure», il existe de meme, depuis vingt-cinq
ans, une peinture avec et sans objet». {Cahiers d'Art No 1-4, 1935,
p. 54).
Die sogenannte «naturalistische» Malerei besteht darin, daß der Ma-
ler ein sehr kleines Stück der Natur (Landschaft, Mensch, Blumen,
undsoweiter) vor den Augen haben muß um ein malerisches Wesen
zu schaffen, das Bild, das Bild heißt. Der «Realist» malt dieses Stück-
chen «genau» ab (als ob es möglich wäre, irgend etwas «genau»
wiederzugeben). Der «Naturalist» verändert dieses Stückchen der
Natur je «nach seinem Temperament». Je nach dem Maße dieser
Veränderung heißt er «Impressionist» oder «Expressionist» oder
endlich «Kubist». Bei der typischen allgemeinen «Spezialisierung» des
19. Jahrhunderts, entstand auch in der Malerei eine spezielle und
extreme Spezialisierung. So verhärteten sich die früheren Teilungen
der Maler zu richtigen «Kasten», die durch harte Mauern voneinander
getrennt blieben. - Maler des Porträts, der Landschaft, der Marine,
des Stillebens und so weiter. Diese harte Teilung ist typisch für die
geistige Einstellung des vergangenen Jahrhunderts und ist auch
noch heute vorherrschend - die Analyse.
In der abstrakten Kunst gehört die Analyse zum Kennenlernen des
«Handwerks», wogegen die Basis der schöpferischen Kraft eine
synthetische wurde. Es würde viel zu weit führen, hier ausführlicher
179
über dieses höchstwichtige Thema zu sprechen. Ich erwähne hier
nur die eine Tatsache, die meine Behauptung bestätigt: der abstrakte
Maler bekommt seine «Anregung» nicht von einem x-beliebigen
Stück Natur, sondern von der Natur im ganzen, von ihren mannig-
faltigsten Manifestationen, die sich in ihm summieren und zum
Werk führen. Diese synthetische Basis sucht sich eine für sie am
besten geeignete Ausdrucksform, das heißt die «gegenstandslose».
Die abstrakte Form ist breiter, freier und inhaltsreicher als die
«gegenständliche».
Dies ist der Kernpunkt der ganzen «Frage».
Man sollte die Formwahl dem Künstler überlassen und weniger an
der Form hängen bleiben.
Dank dem Materialismus des 19. Jahrhunderts hat man sich aber
leider zu sehr daran gewöhnt, das Äußere für das Innere zu halten
und damit hinter der Form den Inhalt nicht zu erleben. Deshalb wird
so viel über die Formfrage nachgedacht, gesprochen und geschrieben.
Auch ich habe bereits 1912 «Über die Formfrage» im «Blauen Reiter»
geschrieben und darunter folgendes gesagt :
«Es gibt keine Frage der Form im Prinzip.»
180
Zwei Richtungen
1935 erschien in der in Kopenhagen herausgegebenen Schrift
Konkretion ein Aufsatz von Kandinsky : «Zwei Richtungen», der den
Sinn der «abstrakten» Kunst in konzentrierter Form erläutert.
Die eine Richtung ist vorherrschend, sie scheint alles zu beherrschen.
Es ist die Richtung, in der sich heute die sämtlichen Länder bewegen,
oder sich zu bewegen scheinen.
Der Zweck dieser Richtung ist, materielle Güter aufzuhäufen, zum
maximalen «Wohlstand» zu kommen, nicht nur «Brot» der Menschheit
zu verschaffen, sondern auch «Freude». Natürlich kann mit «Freude»
noch etwas gewartet werden - sie kommt von selbst, wenn alle
«Brot» in genügendem Maße haben.
Alle Länder strengen sich äußerst an, diesen Zweck zu erreichen.
Es ist eine leidenschaftliche, heroische Anstrengung, die alle Mittel
heilig heißt, die zum menschlichen «Glück» führen. Es ist eine dankbare,
hochwertige Arbeit, die aber leider auch Schattenseiten hat.
Die eine Schattenseite ist die, daß die leidenschaftliche, heroische
Anstrengung zum einen Resultat führt, das fast = 0 ist. Das «Brot»
reicht in keinem Lande aus. Die «Freude» ist zu selten und sieht eher
einer Betäubung ähnlich.
Die andre Schattenseite ist die, daß die Menschheit die Notwendigkeit
«nichtmaterieller» Güter immer mehr vergißt. Die ehemaligen Quel-
len der «geistigen Güter» - die Religion, die Wissenschaft und die
Kunst - werden als solche immer mehr verkannt, und es wird ver-
sucht, sie in den Dienst des materiellen Lebens zu stellen.
181
Diese erschreckende Schattenseite ist das logische Resultat des
«reinen Materialismus» - die Materie ließ den Geist vergessen. Von
hier der «moderne» Mensch der «Praxis», der sich vor der Maschine,
Gewehrmaschine und Wohnmaschine, tief verbeugt, der einen nur
äußeren Blick kultiviert und über den inneren lächelt.
Die Einseitigkeit ist fatal. Letzten Endes kann sie die Menschheit
durch Kau- und Verdauungsmaschinen ersetzen.
Es gibt aber noch eine andere Richtung, die heute nur vereinzelte Er-
scheinungen erzeugt, wenig bemerkt und mißverstanden wird.
Diese Richtung ist ein logisches Resultat der inneren Wendung, die
sich bereits vor dem Krieg (unsere moderne Zeitmessung !) bemerkbar
machte und die heute immer etwas zunimmt, obwohl sie auf den
ersten Blick scheinbar immer mehr verschwindet.
Der Sinn dieser Richtung ist ein doppelter :
1. Erwachen und Entwicklung des «inneren Blickes» und dadurch
2. das Erleben der großen und der kleinen Zusammenhänge, die
mikro- und makrokosmischer Art sind.
Synthese.
1913 habe ich in meiner kleinen Autobiografie (Verlag «Der Sturm»,
Berlin) geschrieben: «Alles ,Tote£ erzitterte. Nicht nur die bedich-
teten Sterne, Mond, Wälder, Blumen, sondern auch ein im Aschen-
becher liegender Stummel, ein auf der Straße aus der Pfütze blickender
geduldiger weißer Hosenknopf, ein fügsames Stückchen Baumrinde,
das eine Ameise im starken Gebiß zu unbestimmten und wichtigen
Zwecken durch das hohe Gras zieht, ein Kalenderblatt, nach dem sich
die bewußte Hand ausstreckt und aus der warmen Geselligkeit mit
182
den noch im Block bleibenden Mitblättern gewaltsam herausreißt -
alles zeigte mir sein Gesicht, sein inneres Wesen, die geheime Seele,
die öfter schweigt als spricht. So wurde für mich jeder ruhende und
jeder bewegte Punkt (= Linie) ebenso lebendig und offenbarte mir
seine Seele. Das wurde für mich genug, um mit meinem ganzen
Wesen, mit meinen sämtlichen Sinnen die Möglichkeit und das
Dasein der Kunst zu «begreifen», die heute im Gegensatz zur ,Gegen-
ständlichkeit' die .Abstrakte* genannt wird.»
Dieses Erleben der «geheimen Seele» der sämtlichen Dinge, die wir
mit unbewaffnetem Auge, im Mikroskop, oder durch das Fernrohr
sehen, nenne ich den «inneren Blick». Dieser Blick geht durch die
harte Hülle, durch die äußre «Form» zum Inneren der Dinge hin-
durch und läßt uns das innere «Pulsieren» der Dinge mit unsren sämt-
lichen Sinnen aufnehmen.
Und diese Aufnahme bereichert den Menschen und speziell den Künst-
ler, weil sie bei ihm zum Keim seiner Werke wird. Unbewußt.
So erzittert die «tote» Materie. Und noch mehr : die inneren «Stim-
men» der einzelnen Dinge klingen nicht isoliert, sondern harmonisch
alle zusammen - die «Sphärenmusik».
Noch ein kleines Zitat. 1912 schrieb ich in meinem Artikel «Über
die Formfrage» für «Der Blaue Reiter»: «Die Linie ist ein Ding,
welches ebenso einen praktisch -zweckmäßigen Sinn hat, wie ein
Stuhl, ein Brunnen, ein Messer, ein Buch undsoweiter. Und dieses
Ding wird ... als ein reines malerisches Mittel gebraucht - also in
seinem reinen inneren Klang. Wenn also im Bild eine Linie von dem
Ziel, ein Ding zu bezeichnen, befreit wird und selbst als ein Ding
183
fungiert, wird ihr innerer Klang durch keine Nebenrolle abge-
schwächt und bekommt ihre volle innere Kraft.»
Die Linie ist hier nicht mehr als nur ein Beispiel aus dem großen
Reich der «abstrakten» Elemente, die zum Aufbau eines Bildes ge-
braucht werden können.
Reiner Klang! Das heißt ohne «Nebengeräusche», die von den Fran-
zosen so nett «Les parasites» genannt werden. Das ist das «Material»,
aus dem der abstrakte Maler seine Bilder «aufbaut».
Der Aufbau selbst wird ihm nicht von «Naturausschnitten» diktiert,
sondern von den Naturgesetzen im ganzen, von den Naturgesetzen,
die über dem Kosmos regieren.
Deshalb ist die abstrakte Kunst eine «reine» Kunst (wie es zum Beispiel
eine «reine» Musik gibt) und deshalb bekommt der sehende Beschauer
nicht selten einen «kosmischen» Eindruck von den abstrakten Bildern.
Um den letzten Punkt auf das letzte «i» zu setzen: die abstrakte Kunst
kommt ohne «Natur» aus, sie unterliegt aber den Gesetzen der Natur.
Ihre Stimme zu hören, ihr zu gehorchen, ist für den Künstler das
höchste Glück.
184
Franz Marc
1936: Bürgerkrieg in Spanien - mit der Legion Condor - Auf-
rüstung in Deutschland - politischer Explosivstoff allenthalben -
Verfolgung des echt Künstlerischen «hüben und drüben» - Wieder-
kehr des 20. Todestages von Franz Marc, gefallen am 21. Februar
1916 vorVerdun. Über seinen Freund schreibt Kandinsky zwei Tex-
te. Den einen für ein in Deutschland geplantes Gedenkbuch. Der
zweite ist nachstehend gedruckt; er erschien in No 8-10/1936 der
Cahiers d*A.rt.
Ich machte die Bekanntschaft von Franz Marc unter ziemlich drama-
tischen Umständen.
Einer Gruppe «avantgardistischer» Künstler aus München gelang es
im Jahre 1910, nach Überwindung ungenannter Schwierigkeiten,
eine Ausstellung zu organisieren in einer der größten und schönsten
Kunstgalerien dieser Stadt, die man «das moderne Athen» nannte.
Die «Athener» hatten in diesem außergewöhnlichen Fall all ihr sonst
sorgfältig verborgenes Temperament offenbart. Die Presse verlangte
die sofortige Schließung dieser «anarchistischen» Ausstellung (der
Ausdruck «marxistisch» war damals noch nicht en vogue), welche
ausländische, der alten bayrischen Kultur gefährlich werdende
Künstler zusammengestellt hätten. Sie machte verständlich, daß die
russischen Künstler besonders gefährlich wären - Dostojewskij mit
seinem «alles ist erlaubt!». Tatsächlich hatte es Russen in der Gruppe,
aber es hatte auch Franzosen, Italiener, Österreicher und Nord-
deutsche. Doch keinen einzigen Bayer. Der Galeriebesitzer beklagte
sich, daß er nach jeder täglichen Schließung die Bilder abtrocknen
müßte, weil das Publikum sie angespuckt hätte. Man muß sagen, daß
185
dieses entsetzte Publikum gut erzogen war; es spuckte, aber es
zerschnitt die Leinwände nicht, wie mir das einmal in einer andern
Stadt während einer Ausstellung passiert ist.
Um den Ruf der bayrischen Bewohner Münchens zu retten, füge ich
an, daß sich nicht eine Stimme erhob, um die Ausstellung zu ver-
teidigen. Nicht eine einzige bayrische Stimme, aber eine preußische.
Diese Stimme gehörte Hugo von Tschudi, Generaldirektor aller bay-
rischen Kunstmuseen. Er war von Berlin gekommen, wo er Direktor
der Nationalgalerie gewesen war und wo er die Abteilung für fran-
zösische Kunst, mit Hilfe privater Spenden, eingerichtet hatte.
Er war ein Mann von reinem und freiem Geist, von unerschöpflicher
Energie und starker Willenskraft - er kannte keine Konzessionen.
Kurz, er hatte Berlin verlassen müssen, und der Prinzregent von
Bayern hatte ihm die bayrischen Museen anvertraut. Ihm war es zu
verdanken, daß es uns gelang, unsere Ausstellung zu machen und ihm
war es zu verdanken, daß die von der Presse geforderte «sofortige
Schließung» nicht stattfand. Und es war ebenfalls er, der in die Aus-
stellung kam, um dem Besitzer der Galerie, der manchmal vollständig
den Kopf verlor, Mut zuzusprechen. Und endlich war er es, der aus
der «alten Pinakothek» ein Wunder alter Kunst machte. Ein Wunder,
das bald nach seinem Tod verschwand.
Aber da war doch eine rein bayrische Stimme. Sie kam plötzlich aus
einem kleinen Dorf Oberbayerns. Franz Marc hatte einen Brief voller
Enthusiasmus und Glückwünsche geschrieben an unsere Gruppe.
Er hatte das Zartgefühl gehabt, nicht persönlich zu erscheinen und
uns zu verpflichten, persönliche Beziehungen mit ihm aufzunehmen.
186
Als ich ihn später sah, zum ersten Mal, verstand ich, daß er seiner
noblen Natur nach gehandelt hatte.
Er stellte ein sehr seltenes Exemplar Mensch dar. Sein Äußeres
stimmte haargenau mit seinem Inneren zusammen: eine harmonische
Kombination von «hart» und «weich».
Seine große Statur, seine breiten Schultern, sein fast hageres Gesicht,
sein schwarzes Haar, sein sicherer und langer Schritt gaben ihm
das Aussehen eines Bergbewohners. Ich liebte es, ihn in den Bergen,
auf den Weiden und in den Wäldern zu sehen. Dort war er «zu-
hause». Er war immer von seinem großen, weißen Hund begleitet.
«Russi» (Rußland zu Ehren) glich in seiner Größe, Kraft und Ruhe
seinem Meister. Er zeigte dieselbe Verbindung von «hart» und «weich».
Sie ergänzten sich sehr gut und verstanden sich vortrefflich. Der
Schwarze sagte etwas zum Weißen, und der Weiße machte mit dem
Kopf ein bestätigendes Zeichen.
Marc hatte, allgemein, direkte Beziehungen zur Natur, wie ein
Bergbewohner oder gar wie ein Tier. Ich hatte manchmal den Ein-
druck, daß die Natur befriedigt war, ihn zu sehen. Alles in der Natur
zog ihn an, aber vor allem die Tiere. Zwischen dem Künstler und
seinen «Modellen» existierte ein gegenseitiger Kontakt, und deshalb
hatte Marc «Zutritt» zum Leben der Tiere, und es war dieses Leben,
das ihn inspirierte.
Aber er verlor sich nie in die Details, und das Tier war für ihn immer
nur eines der Elemente des Ganzen, oft sogar nicht einmal ein wesent-
liches. Er baute seine Bilder wie ein Maler, nicht wie ein «Erzähler».
Aus diesem Grund war er nie ein «Tiermaler». Was ihn anzog, war
187
das große Organische, das heißt die Natur im allgemeinen. Darin liegt
die Erklärung der durch Marc geschaffenen originalen Welt, deren
Wiederholung versucht wurde, aber ohne Erfolg.
Die Zeit hat seither ihre Ansichten geändert, in einigen Richtungen
sogar wesentlich. Ich denke, daß es heute ziemlich schwierig ist,
jemanden zu finden, der sich verletzt fühlt und sich erzürnt, wenn
er auf einer Leinwand eine zitronengelbe Kuh sieht, ein ultramarin-
blaues Pferd, einen zinnoberroten Löwen. Aber damals ging das
Publikum «an den Wänden hoch» und war bis in die Tiefen seiner
Seele beunruhigt vor diesen «Grimassen» und der Tendenz, «den
Bürger zu verblüffen» und ihn zu beleidigen. Man fühlte sich an-
gespuckt, mehr noch, man spuckte selber auf unsere Werke.
Man begriff nicht, daß diese auf eine «ekelhafte» Weise veränderten
Farben und Formen, daß diese «Vergewaltigung der Natur» die reine
künstlerische Anwendung natürlicher Mittel waren, um die besondere
Schöpfungswelt Marcs auszudrücken. Eine phantastische, aber wirk-
liche Welt.
Man fragte: «Haben sie blaue Pferde gesehen?» Und selten antwor-
tete eine wohlmeinende Stimme, leise und zögernd : «Aber . . .
manchmal, am Abend, bei untergehender Sonne, scheint ein schwarzes
Pferd fast blau.» - «Welche Aufschneiderei!»
Die Zeit war schwierig, aber heroisch. Wir malten, das Publikum
spuckte. Heute malen wir, und das Publikum sagt : «Das ist hübsch».
Dieser Wechsel will nicht heißen, daß die Zeiten leichter geworden
wären für den Künstler.
Anstatt einen direkten und natürlichen Kontakt mit der Kunst zu
188
suchen, erfindet man heute neue Schwierigkeiten und Hindernisse,
um sie zwischen das Werk und den Betrachter zu stellen. So fragt
man mit vorgefaßter Miene, ob die Kunst Marcs einer germanischen
Quelle entstamme, das heißt einer «deutschen Seele», und ob seine
Malerei wahrhaft deutsch sei. Ich glaube ja, denn Marc liebte sein
Land. Meiner Meinung nach wäre es wesentlich, unter der «natio-
nalen Seele» ihre Quelle universaler Menschlichkeit zu sehen.
Marc und ich hatten uns in die Malerei gestürzt, aber die Malerei
allein genügte uns nicht. Ich hatte dann die Idee eines «synthetischen»
Buches, welches alte, enge Vorstellungen auslöschen und die Mauern
zwischen den Künsten zum Fallen bringen sollte, zwischen der
offiziellen Kunst und der nicht zugelassenen Kunst, und das endlich
beweisen sollte, daß die Frage der Kunst nicht eine Frage der Form
sondern des künstlerischen Gehalts ist. Die Trennung der Künste,
ihre isolierte Existenz in kleinen «Zellen» mit hohen, harten, un-
durchsichtigen Mauern war in meinen Augen eine der ärgerlichen
und gefährlichen Folgen der «analytischen» Methode, welche die
«synthetische» Methode in der Wissenschaft unterdrückte und damit
auch in der Kunst begann. Die Resultate folgten: die Härte, der
niedrige Gesichtspunkt und das enge Gefühl, der Verlust der Frei-
heit des Gefühls, vielleicht sein endgültiger Tod.
Meine Idee war also, an einem Beispiel zu zeigen, daß der Unter-
schied zwischen der «offiziellen» Kunst und der «ethnographischen»
Kunst keine Lebensberechtigung hatte; daß die verderbliche Ge-
wohnheit, unter den verschiedenen äußerlichen Formen nicht die
innere organische Wurzel der Kunst im allgemeinen zu sehen, zum
189
totalen Verlust der Wechselbeziehung zwischen der Kunst und dem
Leben der menschlichen Gesellschaft führen konnte. Und gleicher-
weise der Unterschied zwischen der Kunst des Kindes, dem «Dilet-
tantismus» und der «akademischen» Kunst - die Gradunterschiede
der «vollendeten» und der «nicht vollendeten» Form überdeckten die
Kraft des Ausdrucks und die gemeinsame Wurzel.
Diese Idee ist heute nicht mehr zu neu, 25 Jahre sind seither ver-
flossen. Aber um die Wahrheit zu sagen, der Gesichtspunkt hat sich
im allgemeinen nicht viel geändert, und die «Formfrage» erstickt noch
jetzt den künstlerischen Gehalt (man sehe beispielsweise die Frage
der «Möglichkeit einer ungegenständlichen Kunst»).
Meine Idee war ferner, einen Maler, einen Musiker, einen Dichter,
einen Tänzer und so weiter Seite an Seite zusammen arbeiten zu lassen,
und in dieser Absicht wollte ich mich an die Künstler der isolierten
«Zellen» wenden, damit sie am projektierten Buch mitwirkten.
Marc war begeistert von diesem Plan, und wir beschlossen, uns
gleich ans Werk zu machen. Es war eine wunderbare Arbeit, und in
einigen Monaten hatte Der Blaue Reiter seinen Verleger gefunden.
Er erschien im Jahr 1912. Wir hatten zum ersten Mal in Deutschland
die Kunst der «Wilden» in einem Kunstbuch gezeigt, die bayrische
und russische «Volkskunst» (die Hinter-Glas-Malerei, die «Ex-voto»,
die «Lubki»), die «Kinderkunst» und die «dilettantische» Kunst. Wir
hatten eine Faksimile- Ausgabe von Her^gewächse von Arnold Schön-
berg herausgegeben, die Musik seiner Schüler Alban Berg und Anton
von Webern, und wir zeigten die alte Malerei Seite an Seite mit der
modernen.
190
Die Autoren der Artikel waren Maler und Musiker. Delacroix und
Goethe bestätigten unsere Ideen durch ihre Aussprüche. 141 Repro-
duktionen «illustrierten» alle diese Ideen.
Der große Erfolg des Buches, hauptsächlich bei der Jugend, hat be-
wiesen, daß es im richtigen Moment zur Welt gekommen war.
Ermutigt machten wir Pläne für das nächste Buch, das die Kräfte
von Künstlern und Wissenschaftlern vereinigen sollte. Die gemein-
same Wurzel zwischen der Kunst und der Wissenschaft zu finden,
war damals unser Traum, der nächstens nach Verwirklichung ver-
langte.
Aber der Krieg setzte diesen Träumen ein Ende.
Gerade einige Monate vor Beginn des Krieges gelang es Marc
durch Zufall, einen seiner glühendsten Wünsche, einen kleinen Land-
besitz zu haben, zu verwirklichen. Er kam in den Besitz eines kleinen,
sehr sympathischen Hauses, eines Stück Waldes, eines kleinen
Gartens und einer Wiese, wo seine Ziegen lebten. Dorthin war ich
gekommen, um ihm «Auf Wiedersehen» zu sagen, als der Krieg
ausgebrochen war - man war damals überzeugt, daß er nur einige
Monate dauern konnte. Aber Marc antwortete mir mit einem «Adieu»
- «Wieso Adieu ?» - «Weil wir uns nicht mehr sehen werden, ich weiß
es.»
Franz Marc wurde am 21. Februar 1916 bei Verdun getötet.
191
&>
Zugang zur Kunst
Die Texte Kandinskys erschienen seit 1934 ausschließlich in den
freien Ländern: Belgien, Dänemark, England, Frankreich, Holland
und in der Schweiz. Auch stellte er in diesen freien Ländern seine
Bilder aus, währenddem sie in Deutschland als «entartete Kunst»
verfemt waren. Für Eri Udstilling, Kopenhagen, 1937, schrieb er
nachstehende Studie, die, getragen von einer Skepsis der tech-
nischen Entwicklung gegenüber, das Primat des Geistigen betont.
«Die Zeit der Technik.»
Neues, aber bereits altes Thema.
Man gewöhnt sich schnell an immer neue Wunder, und die alten
Märchenträume sind überflügelt worden.
Atomzerspaltung ist «altes Spiel» geworden. Der Flug in die Strato-
sphäre steht an der Schwelle des «alten Spiels». Die unhörbaren
«Ultratöne» fangen an, «hörbar» zu werden, werden fügsam und
dienen praktischen Zwecken. Das Überfliegen des Nordpols führt
heute zu Küssen an Flugplätzen und Bahnhöfen. Wie lange noch ?
Der Bedarf an Wundern scheint bald total gedeckt zu werden.
Was können dagegen die «Wunder der Kunst» ?
Logik. Mathematik - Kalkulation. Die unerschöpfliche Quelle
immer neuer Wunder. Ein sich in Unendlichkeit verlierender Weg.
Die Mathematik erobert sich von Tag zu Tag wichtigere Plätze in
verschiedensten Wissenschaften und darüber hinaus. Die Kalkulation
versagt scheinbar nie auf verschiedensten Gebieten. Die Logik
schneidet manchmal Fratzen. Bleibt aber sicher.
Ist dies auch die unerschöpfliche Quelle der «Wunder der Kunst»?
Der sich in Unendlichkeit verlierende Weg der siegesreichen Kunst ?
193
2 Heringe + 2 Heringe = 4 Heringe. Scheint ein ewiges Gesetz zu
sein, das stets unerschüttert bleibt.
2 Gelb + 2 Gelb = ? Manchmal = 0.
In der Kunst wird nicht selten Vergrößerung durch Verminderung
erreicht. Wo bleibt die Kalkulation ? Die Logik schmunzelt verlegen.
Die Mathematik faßt sich am Kopf.
Wer will noch ein Kunstwerk errechnen ?
Der Künstler «hört», wie ihm «jemand» sagt: «Halt! Wohin? Die
Linie ist zu lang. Etwas abnehmen, aber nur etwas! ^twas' sage ich
Dir.» Oder: «Willst Du das Rot lauter klingen lassen? Schön! Also
etwas Grün hinein. Also etwas ,brechen£, abnehmen. Aber nur
,etwas' sage ich Dir.» Was Henri Rousseau für das «Diktat seiner ver-
storbenen Frau» hielt.
«Die verstorbene Frau» ist die unerschöpfliche Quelle der «Wunder
der Kunst». Der sich in Unendlichkeit verlierende Weg.
Man muß nur zu «hören» verstehen, das heißt wenn die Stimme
klingt. Wenn nicht, dann ist es aus mit der Kunst.
So werden vom Künstler die Formen «erfunden», «gemessen», und so
entsteht die «Proportion», das Gleichgewicht. Die «Konstruktion»!
Das hilft aber alles nicht, wenn der «Beschauer» kein «Ohr» hat.
Er braucht nicht zu hören, was erst entstehen soll, aber den «Klang»
des bereits entstandenen Werkes muß er hören können.
Der «Beschauer» ist aber zu oft von Propellern betäubt. Das «reale
Leben» hat ihn geblendet. Hier liegt der Grund der heutigen Be-
hauptung, die Kunst hätte die Beziehungen zum Leben verloren.
Nein. Nicht die Kunst hat die Beziehungen verloren, sondern die
194
Menschheit im ganzen. Die Beziehungen nicht zum Lehen, sondern
zum Leben.
Das Leben besteht nicht nur aus «Realitäten». Wo würde dann das
Unreale bleiben? Wo würde dann der Traum einen Platz für sich
finden? Nicht der Traum der «Siebenmeilenstiefel», der bereits ver-
wirklicht wurde. Der Traum der «unrealen» Welt, die mit der realen
Welt zusammen die Welt bildet.
Der «geistige» Mensch ist kastriert worden, nur ein Halbwesen steht
an der Stelle des Ganzen.
Als die Menschen sich zu «alten Zeiten» (vor dem bis heute noch
nicht «bezahlten» Weltkrieg) über unsre Träume mokierten, waren
sie noch lebendig, da sie vor Empörung spuckten. Als sie spuckten,
hatten sie scheinbar eigne Träume, die von unsren Träumen be-
leidigt wurden. Die Menschen spuckten, weil sie das Werk erlebten,
wenn auch verkehrt. Wenn sie heute diese, wenn auch verkehrte,
Beziehung zur Kunst verloren haben, so ist der «Propeller» nicht
wenig daran schuld.
Nein, es ist kein Größenwahn zu behaupten, daß die heutige Kunst
nicht weniger zu «sagen» hat, als es vor hundert und noch mehr Jahren
der Fall war.
Eher mehr.
Vor 25 Jahren hat die Malerei, und ziemlich bald danach die Plastik,
eine neue «Sprache» entdeckt - das «Reden» mit ausschließlich
künstlerischen Mitteln - ohne jeden «Zusatz».
Diese Sprache ist die sogenannte «abstrakte», oder wie man sie
sonst nennt. Wie sonderbar ist es, daß gerade diese «reine», unver-
195
mischte Sprache (ohne «Parasiten»), mancher Meinung nach, den Riß
zwischen Kunst und Leben vollbrachte.
Die Kunst schien dem Leben nicht mehr folgen zu können. Oder
war es das Leben vielleicht, das der Kunst nicht mehr zu folgen
vermochte ?
Diese Frage möchte ich mit «Ja!» beantworten. Mit einem ganz
energischen «Ja!»
Die heutige Menschheit ist allerdings nicht selbst daran schuld, daß
sie alles in der Welt ausschließlich rein materialistisch aufzufassen
vermag, und daß sie vor Dingen, zu welchen sie einen «materiellen»
Weg nicht findet, verständnislos und verwirrt steht. Oder - besser
gesagt - solchen «unverständlichen» Dingen ruhig den Rücken kehrt,
ohne sich um einen «Zugang» zu bemühen. Sie trägt hier keine
eigne Schuld, aber Folgen einer fremden.
Soll es immer auch weiter so bleiben? Ist der «RIß» zwischen Kunst
und Leben unkurierbar ?
Diese Frage möchte ich mit einem energischen «Nein!» beant-
worten.
Nein, und nochmals nein! Es bleibt nicht so, da das «Halbwesen» nur
eine Übergangserscheinung ist, da der Mensch letzten Endes nicht
dazu fähig ist, stets sich mit nur einer einzigen Seite zu begnügen, da
ihm ein Bedürfnis angeboren ist, auch nach der «andren Seite» zu
hungern und zu dursten.
Diese andre Seite ist eben die Kunst, die allein die Fähigkeit und die
Kraft in sich trägt, das sagen zu können, was das Leben notge-
drungen verschweigt.
196
Und: nur diese beide zusammen - Leben und Kunst - erfüllen das
Leben. Und diese beiden zusammen lassen das Leben erraten. Wenig-
stens ahnen.
Die Ahnung ist schon viel. Sie ist ein Versprechen, daß die fatale
Einseitigkeit einmal aufzuhören verurteilt ist und durch die Viel-
seitigkeit ersetzt wird, die endlich das Leben immer mehr erkennen
läßt.
Ich bitte um Erlaubnis, ein paar Worte über meine Malerei zu sagen.
Ich bitte, nicht zu glauben, daß meine Malerei «Geheimnisse» vor
Ihnen zu enthüllen sucht, daß ich (wie manche glauben) eine spezielle
«Sprache» erfunden habe, die «erlernt» werden muß und ohne die
meine Malerei nicht «entziffert» werden könnte.
Man soll die Sache nicht komplizierter machen, wie sie in der Wirk-
lichkeit ist. Mein «Geheimnis» besteht ausschließlich darin, daß ich
seit Jahren die glückliche Fähigkeit erwarb (vielleicht unbewußt
erkämpfte), mich (und damit meine Malerei) von «Nebengeräuschen»
zu befreien, weil für mich jede Form lebendig, klang- und damit aus-
drucksvoll wurde. So erwarb ich gleichzeitig die glückliche Fähigkeit,
die leiseste Sprache zu «hören». Und damit kam die nicht weniger
glückliche Möglichkeit, aus dem unendlich großen «Formenschatz»
vollkommen frei und hemmungslos die Form herauszuholen, die ich
für diesen augenblicklichen Fall (= Werk) benötige. Ich brauche
mich dabei nicht um den «Inhalt» zu kümmern, sondern nur und aus-
schließlich um die richtige Form. Und die richtig herausgeholte
Form drückt ihren Dank dadurch aus, daß sie selbst ganz allein für den
Inhalt sorgt.
197
Hier liegt die Lösung der Frage «Abstrakte Kunst». Die Kunst
bleibt stumm nur für den, der die Form nicht zu «hören» vermag.
Aber! nicht nur die «abstrakte», sondern jede Kunst, wenn sie auch
durch und durch «realistisch» ist.
Der «Inhalt» der Malerei ist Malerei. Hier braucht nichts entziffert zu
werden: der Inhalt redet freudeerfüllt zu dem, für den jede Form
lebendig, also inhaltsvoll ist.
Der, zu dem die Form «spricht», wird nicht unbedingt nach «Gegen-
ständen» suchen. Ich will gern anerkennen, daß der «Gegenstand» für
manchen Künstler eine Ausdrucksnotwendigkeit ist, wobei aber der
Gegenstand nur eine Zugabe der Malerei bleibt. Der Folgenschluß ist
also der, daß man den Gegenstand nicht für etwas Unumgängliches
in der Malerei zu halten braucht. Er kann ebenso leicht störend
wirken, wie es zum Beispiel für mich in meiner Malerei der Fall ist.
Glauben Sie auch bitte nicht, daß ich vor Ihnen ein «Programm»
entwickle. Und ganz besonders bitte ich nicht zu glauben, daß ich
Ihnen gern ein «Programm» aufhalsen möchte.
Programme können ganz schön und verlockend sein, aber nur dann,
wenn sie aus den fertigen Werken herauskristallisiert werden. Sie
sollen Folgen des Werkes sein, aber nicht sein Ursprung.
Das Schaffen ist frei und soll frei bleiben. Das heißt es soll keinem Druck
unterliegen. Mit der einzigen Ausnahme des Druckes, der vom «inneren
Diktat» verursacht wird - von der «Stimme der verstorbenen Frau».
Deshalb erschrecke ich persönlich nicht, wenn sich unter meine
Formen eine Form hineinschmuggelt, die an eine «Naturform» er-
innert. Ich lasse sie ruhig stehen und will sie nicht streichen.
198
Wer weiß, vielleicht sind unsre «abstrakten» Formen alle miteinander
«Naturformen», aber. . . keine «Gebrauchsgegenstände». Diese Kunst-
und Naturformen sind «zwecklos», wodurch sie eine noch klarere
Stimme besitzen, für die ein «Ohr» notwendig ist.
Nochmals: man soll sich vor programmatischer Kunst hüten, und
nur und immer einer undefinierbaren Sehnsucht folgen. Weil die
Kunst immer der Ausdruck der Sehnsucht war, heute ist und in der
Zukunft immer eine Sehnsucht bleibt.
Das Glück des Künstlers ist die Möglichkeit, die Sehnsucht in
Formen kleiden zu können - mehr oder weniger. Sein Unglück ist die
Unmöglichkeit, die Sehnsucht durch Formen restlos zum «Ausdruck»
zu bringen.
Ich weiß, wie schwer es manchem fällt, diesen Ausdruck zu «lesen»
- besonders, wenn er aus «abstrakten» Formen spricht. Mancher
«Beschauer» erschrickt, weil es ihm scheint, der Boden wäre unter
seinen Füßen weggerissen worden, er «hänge in der Luft».
Besonders heute wird es vom «normalen» Menschen verlangt, er
soll «mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen». Leider folgt er
zu oft diesem Befehl, wobei er scheinbar vergißt, daß heute sogar
sein Körper den uralten Traum des Fliegens erreicht hat, schon heute
über den Nordpol und in die Stratosphäre zu fliegen vermag. Bald
erreicht er vielleicht in der «letzten» Höhe den letzten irdischen
«Deckel».
Wie viel leichter dagegen ist das «Fliegen» in der Kunst, wozu nicht
einmal ein Flugzeug notwendig ist.
Erlauben Sie mir, Ihnen zum Schluß ein kleines Zitat aus meiner
199
kurzen Autobiografie zu bringen, die 1913 erschien (Kandinskyy
Verlag «Der Sturm», Berlin) :
«... Lösung befreite mich und öffnete mir neue Welten. Alles
,Tote* erzitterte. Nicht nur die bedichteten Sterne, Mond, Wälder,
Blumen, sondern auch ein im Aschenbecher liegender Stummel, ein
auf der Straße aus der Pfütze blickender, geduldiger weißer Hosen-
knopf, ein fügsames Stückchen Baumrinde, das eine Ameise im
starken Gebiß zu unbestimmten und wichtigen Zwecken durch das
hohe Gras zieht, ein Kalenderblatt, nach dem sich die bewußte Hand
ausstreckt und aus der warmen Geselligkeit mit den noch im Block
bleibenden Mitblättern gewaltsam herausreißt - alles zeigte mir sein
Gesicht, sein inneres Wesen, die geheime Seele, die öfter schweigt
als spricht. So wurde für mich jeder ruhende und jeder bewegte
Punkt (= Linie) ebenso lebendig und offenbarte mir seine Seele.
Die war für mich genug, um mit meinem ganzen Wesen, mit meinen
sämtlichen Sinnen die Möglichkeit und das Dasein der Kunst zu
begreifen, die heute im Gegensatz zur , Gegenständlichen' die ,Ab-
strakte* genannt wird.»
200
fcv
Interview Nierendorf- Kandinsky
1937 bat der Kunsthändler Karl Nierendorf, der Kandinsky in den
USA vertrat, um ein Interview, das hier wörtlich wiedergegeben
ist. Karl Nierendorf starb 1948 in New York.
1 . Datum des ersten abstrakten Bildes?
1911, also vor 26 Jahren. Abstraktes Aquarell bereits 1910.
2. Wie kamen Sie auf den «abstrakten» Gedanken in der Malerei?
Schwer zu sagen. Schon in sehr jungen Jahren fühlte ich die uner-
hörte Ausdruckskraft der Farbe. Ich beneidete die Musiker, die Kunst
machen können ohne etwas «Realistisches» zu «erzählen». Die Farbe
schien mir aber ebenso ausdrucksvoll und stark zu sein, wie es der
Klang ist. Mit etwa 20 Jahren wurde ich von einem wissenschaftlichen
Institut der Moskauer Universität nach dem Gouvernement Wologda
geschickt (Nord-Ost im europäischen Rußland) zu juristischen und
ethnographischen Forschungen. Dort sah ich Bauernhäuser, die innen
vollständig ausgemalt waren - ungegenständlich. Ornamentik,
Möbelstücke, Geschirr, alles bemalt. Ich hatte den Eindruck, ich
trete in die Malerei hinein, die nichts «erzählt». Nach ein paar Jahren
sah ich eine große Impressionisten- Ausstellung in Moskau, die teils
sehr bekämpft wurde, weil die Maler «den Gegenstand schlampig
behandelten». Ich hatte aber den Eindruck, hier käme die Malerei
selbst in Vordergrund, und fragte mich, ob man nicht noch viel
weiter auf diesem Wege gehen könnte. Seitdem sah ich die russische
Ikonenmalerei mit andern Augen, das heißt ich «bekam Augen» für
das Abstrakte in dieser Malerei. 1906 sah ich zum ersten Mal die
202
früheren Bilder von Matisse, die auch sehr bekämpft wurden - aus
demselben Grund, wie die Impressionisten in Moskau. Ich stellte
mir sehr ermutigt wieder die Frage, ob man den «Gegenstand» nicht
nur reduzieren, «verzeichnen» könne, sondern überhaupt ganz be-
seitigen. So ging ich über den «Expressionismus» zur abstrakten
Malerei über - langsam, durch unendlich viele Versuche, Verzweif-
lung, Hoffnung, Entdeckungen.
Sie sehen, daß ich nie etwas mit dem Kubismus zu tun hatte. Als ich
zum ersten Mal Photos nach kubistischen Picassos sah (1912), war
mein erstes abstraktes Bild schon gemalt.
3. Es wird oft behauptet, die abstrakte Kunst hätte nichts mehr mit der Natur
!£u tun. Finden Sie das auch?
Nein ! Und nochmals nein ! Die abstrakte Malerei verläßt die «Haut»
der Natur, aber nicht ihre Gesetze. Erlauben Sie mir das «große Wort»,
die kosmischen Gesetze. Die Kunst kann nur dann groß sein, wrenn sie
in direkter Verbindung mit kosmischen Gesetzen steht und sich ihnen
unterordnet. Diese Gesetze fühlt man unbewußt, wenn man sich nicht
äußerlich der Natur nähert, sondern - innerlich - man muß die Natur
nicht nur sehen, sondern erleben können. Wie Sie sehen, hat das mit dem
Benutzen des «Gegenstandes» nichts zu tun. Absolut gar nichts!
Ich habe darüber in den Cahiers a" Art auf Bitte von M. Zervos ge-
schrieben.
Wenn der Künstler äußere und innere Augen für die Natur hat, be-
dankt sie sich bei ihm durch «Inspiration».
4. Es wird ebenso nicht selten behauptet, daß der «abstrakte Maler» aus-
schließlich «kopfmäßig» arbeitet. Stimmtest
203
Es kommt nicht selten vor, daß es stimmt. Aber . . . nicht seltener
kommt es auch bei «gegenständlichen» und «realistischen» Malern vor.
Der «Kopf» ist ein notwendiger und wichtiger «Körperteil» bei dem
Menschen, aber nur in organischer Verbindung mit dem «Herz»,
oder «Gefühl» - nennen Sie es, wie Sie wollen. Ohne diese Verbin-
dung ist der «Kopf» die Quelle aller Gefahren und aller Verderben.
Auf allen Gebieten. Also auch in der Kunst. In der Kunst sogar noch
mehr: es gab große Künstler «ohne Kopf». Aber ohne «Herz» nie.
Zu großen Epochen und bei großen Künstlern gab es immer die
organische Verbindung zwischen Kopf und Herz (Gefühl). Nur zu
Zeiten der größten Verwirrungen, wie wir es heute haben, kann der
armselige Gedanke entstehen, daß Kunst durch Kopf allein zu er-
reichen wäre. Es scheint mir aber, daß dieser armselige Gedanke
bereits tot ist. Henri Rousseau dachte, daß seine besten Werke ihm
von seiner «verstorbenen Frau» diktiert wurden. Mag sein! Jeden-
falls kommt die Kunst ohne ein «inneres Diktat» nicht zur Welt.
«Intuition» !
5. Welchen Widerhall fanden Sie bei Ihren ersten abstrakten Werken in der
Öffentlichkeit?
Ich stand damals vollkommen allein da, weil meine Malerei auf die
leidenschaftlichste Weise abgelehnt wurde. Was ich an Beschimp-
fungen zu hören bekam, ist tatsächlich phantastisch. «Talentloser
Schwindler» war der Lieblingsausdruck. Später hat mein Berliner
Kunsthändler, Herwarth Waiden, einen Prozeß gegen einen deut-
schen Kritiker geführt, der mich den Gründer einer neuen Kunst-
richtung mit Namen «Idiotismus» nannte. Aber auch noch heute gibt
204
es hie und da «Kritiker», die zu beweisen suchen, daß die abstrakte
Malerei «nicht möglich ist». Sie wissen ja, daß diese Meinung nicht
nur «Kritiker» teilen.
Meiner Meinung nach ist diese konsequente Bekämpfung der ab-
strakten Kunst, eine Bekämpfung, die über 25 Jahre dauert, der
beste Beweis für die Notwendigkeit und große Kraft der abstrakten
Kunst. Was glatt und schnell vor sich geht, ist immer eine Null.
6. Was denken Sie von amerikanischen «Möglichkeiten» ?
Ich war noch nie in Amerika, aber alles, was ich von hier aus sehe
und höre, ist oft erfreulich. Amerika ist ein junges Riesenland, das
mich oft an Rußland erinnert - dieselbe Kompliziertheit, Mannig-
faltigkeit, Liebe zum Lebendigen, Freien und zum Neuen ... im
guten Sinn.
Die Amerikaner haben die beneidenswerte Frische behalten, die hier
bei uns viel zu selten vorkommt. Natürlich gibt es überall - in
Amerika wie in Europa - «Modernisten», das heißt Menschen, die
große Angst haben, «zurückzubleiben» und deshalb sich zu allem
Neuen mit Begeisterung bekennen. Sie vergessen dabei, wieviel von
solchen Neuigkeiten im Laufe der letzten 20 bis 30 Jahren ein «Leer-
lauf» war. Aber ohne «Entgleisungen» kommt man nicht weiter - viel-
leicht ein bittres, aber ewiges «Naturgesetz». Man sagt ja: «nur der
irrt nicht, der nichts tut». Ich meine aber: der irrt am meisten.
205
\fe
VS
Konkrete Kunst
1938 gründete Gualtieri di San Lazzaro in Paris die Zeitschrift
XXe Sikle. In der ersten Nummer (1/1938) erschien ein Aufsatz
von Kandinsky: «Konkrete Kunst», wiederum eine Rechtfertigung
seiner künstlerischen Mittel. Erstmals erklärt hier Kandinsky,
weshalb er nun seine Kunst ebenfalls «konkret» nennt, nachdem
van Doesburg, und in dessen Gefolge Arp und Bill, den Begriff
«konkrete Kunst» (1930/1936) eingeführt und theoretisch unter-
baut hatten.
Alle Künste kommen aus der gleichen und aus einer einzigen Wurzel.
Folglich sind alle Künste identisch.
Aber das geheimnisvolle und kostbare ist, daß die aus demselben
Stamm herrührenden «Früchte» verschieden sind. Die Verschiedenheit
entsteht durch die Mittel jeder einzelnen Kunst - durch die Mittel
des Ausdrucks.
Das ist sehr einfach im ersten Moment. Die Musik drückt sich durch
den Ton aus, die Malerei durch die Farbe, undsoweiter. Allgemein
bekannte Dinge.
Aber die Unterschiede endigen nicht hier. Die Musik, zum Beispiel,
braucht für ihre Mittel (die Klänge) die Zeit und die Malerei braucht
für die ihrigen (die Farben) die Fläche. Zeit und Fläche müssen genau
«bemessen» sein und Klang und Farbe müssen genau «begrenzt»
sein - diese «Begrenzungen» sind die Grundlage des «Gleichgewichtes»
und also der Komposition.
Rätselhafte Gesetze, in der Komposition aber von großer Bestimmt-
heit, zerstören die Unterschiede, weil diese Gesetze in allen Künsten
dieselben sind.
207
Nebenbei möchte ich sehr unterstreichen, daß der «organische Unter-
schied» von Zeit und Fläche im allgemeinen übertrieben wird. Der
Komponist nimmt den Zuhörer bei der Hand, läßt ihn in sein musi-
kalisches Werk eindringen, führt ihn Schritt für Schritt und verläßt
ihn, wenn «das Stück» zu Ende ist. Die Führung ist vollkommen.
Sie ist unvollkommen in der Malerei. Aber! . . . Der Maler kann
sich ihrer ebenfalls bedienen. Er kann, wenn er will, den Beschauer
zwingen, «hier» anzufangen, einen genauen Weg in seinem Bild zu
verfolgen und es «dort» zu verlassen. Das sind außerordentlich kom-
plizierte Fragen, noch sehr wenig bekannt und vor allem wenig ab-
geschlossen. Ich wollte nur sagen, daß die Verwandtschaft zwischen
der Malerei und der Musik offensichtlich ist. Aber sie offenbart sich
noch tiefer. Sie kennen sicher die Frage der «Assoziationen», hervor-
gerufen durch die Mittel der verschiedenen Künste ? Einige Wissen-
schafter (vor allem die Physiker) und einige Künstler (vor allem die
Musiker) haben seit langem schon beobachtet, daß zum Beispiel ein
musikalischer Klang die Assoziation einer bestimmten Farbe hervor-
ruft. (Siehe die festgelegten Übereinstimmungen von Skrjabin.) Anders
ausgedrückt: Sie «hören» die Farbe und Sie «sehen» den Ton.
Es werden bald 30 Jahre sein, daß ich ein kleines Buch veröffentlicht
habe, welches diese Frage ebenfalls behandelt, («Über das Geistige in
der Kunst», München 1912). Das Gelb zum Beispiel hat die spezielle
Fähigkeit zu «Steigen», immer höher, bis es für Ohr und Geist uner-
trägliche Höhen erreicht: der Ton einer Trompete, immer höher
gespielt, immer «zugespitzter» tut Ohr und Geist weh. Das Blau hin-
gegen, mit seiner entgegengesetzten Kraft des «Niedersteigens» in
208
unendliche Tiefen assoziiert den Ton der Flöte (wenn das Blau hell ist),
denjenigen des Cello (wenn es dunkler wird, «herabsteigt») schließlich
jenen großartigen tiefen Ton des Kontra-Basses und endlich: «sehen»
Sie in den tiefsten Orgeltönen die Tiefen des Blau. Das gut ausge-
wogene Grün entspricht den mittleren und breiten Tönen der Geige.
Richtig aufgesetzt, kann Rot (Zinnober) den Eindruck starker Trom-
melschläge vermitteln, undsoweiter.
Die Vibrationen der Luft (der Ton) und des Lichts (die Farbe) bilden
sicher die Grundlage dieser physischen Verwandtschaft.
Aber das ist nicht die einzige Grundlage. Es gibt noch eine andere :
die psychologische Grundlage. Problem des «Geistes».
Haben Sie Ausdrücke gehört, oder haben Sie sie selbst gebraucht, wie :
«Oh, welch kalte Musik!» oder: «Oh, welch eisige Malerei!» Sie
haben das Gefühl von eisiger Luft, wie sie im Winter durch ein offenes
Fenster hereindringt. Und ihr ganzer Körper ist unzufrieden.
Plötzlich aber wird Ihnen heiß - weil der Maler oder der Komponist
durch die richtige Anwendung von warmen Tönen und Klängen
«warme» Werke geschaffen hat. Es brennt Sie direkt. Verzeihen Sie
mir, aber es sind wirklich Malerei und Musik, welche Ihnen (selten
immerhin) Leibweh machen können.
Sie kennen sicher auch den Fall, daß Ihr Finger, wenn er im Geist
auf einigen Klang- oder Farbverbindungen «spazieren» geht, plötzlich
wie von Dornen «gestochen» wird. Ein ander Mal aber «spaziert»
Ihr Finger auf Malerei und Musik wie auf Samt oder Seide.
Und endlich - ist zum Beispiel das Violett nicht anders duftend als das
Gelb? Und das Orange? Das helle Grün-Blau?
209
Und im «Geschmack», sind sie nicht verschieden, diese Farben ? Welch
schmackhafte Malerei ! Die Zunge beginnt teilzunehmen am Kunst-
werk. Und damit haben wir die fünf bekannten Sinne des Menschen.
Täuschen Sie sich nicht, glauben Sie nicht, daß Sie die Malerei nur
durch das Auge aufnehmen. Nein, Sie nehmen sie unbewußt durch
Ihre fünf Sinne auf.
Was man in der Malerei unter dem Wort «Form» versteht, ist nicht
die Farbe allein. Was man die «Zeichnung» nennt, ist ein anderer
unumgänglicher Teil der malerischen Ausdrucksmittel.
Und, beginnend mit dem «Punkt», der Urform aller anderen Formen,
deren Zahl unendlich ist - dieser kleine Punkt ist ein lebendes Sein,
welches die vielfältigsten Einflüsse auf den Geist des Menschen
besitzt. Wenn der Künstler ihn gut auf die Leinwand setzt, ist der
kleine Punkt befriedigt und befriedigt den Beschauer. Er sagt: «Ja,
das bin ich - hörst Du meinen kleinen notwendigen Klang in dem
großen ,Chorc des Werkes ?»
Und wie ist es peinlich, diesen kleinen Punkt dort zu sehn, wo er nicht
sein sollte ! Sie haben den Eindruck, Schlagrahm zu essen und Pfeffer
auf der Zunge zu spüren. Eine Blume mit Modergeruch. Vermoderung
- das ist das Wort ! Die Komposition verwandelt sich in Zersetzung.
Das ist der Tod.
Haben Sie bemerkt, obschon lange von der Malerei und ihrem Aus-
drucksmitteln gesprochen wurde, habe ich nicht ein einziges Wort
über den «Gegenstand» gesagt? Die Erklärung ist sehr einfach: ich
habe von den wesentlichen malerischen Mitteln gesprochen, das heißt
von den unumgänglichen.
210
Man wird niemals die Möglichkeit haben, ohne «die Farbe» und ohne
«die Zeichnung» ein Bild zu schaffen, aber die Malerei ohne Gegen-
stände existiert in unserm Jahrhundert seit mehr als 30 Jahren. Also
kann der Gegenstand in der Malerei angewandt werden oder nicht.
Wenn ich an all diese Debatten um dieses «nicht» denke, an die De-
batten, die vor 30 Jahren begannen und die heute noch nicht beendet
sind, so sehe ich die immense Kraft der als «abstrakt» oder «unge-
genständlich» bezeichneten Malerei, die ich vorziehe «konkret» zu
nennen.
Diese Kunst ist ein «Problem», das man zu oft begraben wollte, das man
als definitiv gelöst meldete (im negativen Sinne natürlich), und - das
sich nicht begraben läßt. Es ist zu lebendig.
Im Impressionismus, im Expressionismus und Kubismus existieren
keine Probleme mehr. Alle diese «Ismen» sind in verschiedene Schub-
fächer der Kunstgeschichte verteilt. Diese sind numeriert und tragen
ihren Inhalt anzeigende Etiketten. Und so sind die Debatten zu Ende.
Es ist Vergangenheit.
Aber die Debatten um die Konkrete Kunst lassen ihr Ende nicht vor-
aussehen. Um so besser! Die Konkrete Kunst ist in voller Entwick-
lung, vor allem in den freien Ländern, und die Zahl der jungen Künst-
ler, die an dieser Bewegung teilhaben, steigt in all diesen Ländern.
Dies ist die Zukunft !
211
abstrakt oder konkret ?
«abstrakt oder konkret» ist ein Text, den Kandinsky schrieb für
den Katalog der Tcntoonstelling abstracte Kunst im Stedclijk Museum,
Amsterdam, 1938.
Heute zählt die sogenannte abstrakte Malerei schon mehr als 25 Jahre
ihres Lebens.
Diese Tatsache allein widerlegt eine Menge der «Vorwürfe», die dieser
Malerei besonders zu Anfang von allen Seiten temperamentvoll ge-
macht wurden.
Hier will ich nur den wesentlichsten der Vorwürfe berühren. Es wurde
nämlich behauptet (was auch noch heute manchmal vorkommt),
die Ausdrucksmittel der abstrakten Malerei wären so beschränkt, so
schnell zu erschöpfen, daß diese Form sich selbst das Todesurteil
ausspricht. Deshalb wurde die abstrakte Malerei wiederholt zu Grabe
getragen.
Mangel an Ausdrucksmöglichkeiten? Es wäre schlimm! An dieser
Stelle kann ich die theoretische Widerlegung der schlimmen Be-
hauptung weglassen. Wozu die Theorie, wenn wir diese vom Amster-
damer Gemeindemuseum veranstaltete Ausstellung vor Augen haben?
Diese Ausstellung spricht nicht mit Worten, sondern mit Taten und
beweist, daß die abstrakte Form nach jeder «Grablegung» immer und
immer an Kraft, Ausdruck und unbegrenzten Möglichkeiten zunahm.
Ausdrucksmöglichkeiten !
Was kann und soll die Kunst überhaupt und die Malerei insbesondere
zum Ausdruck bringen ?
213
Komplizierte Frage, auf die die Antwort einfach ist.
Zum Ausdruck wird bei jedem neuen echten Werk eine neue, noch
nie dagewesene Welt gebracht. Also ist jedes echte Werk eine Neu-
entdeckung - neben die bereits bekannten Welten wird eine neue,
bis dahin unbekannte Welt gestellt. Darum sagt jedes echte Werk «Da
bin ich!»
Ein wesentlicher Augenblick. Hier ist an der Zeit, die Frage zu stellen,
wie (Formfrage!) ein realistisches, ein naturalistisches, ein kubisti-
sches, ein surrealistisches Werk (bitte zählen Sie sich die sämtlichen
übrigen «Ismen» selbst auf) im Vergleich zum abstrakten Werk zu-
stande kommt.
In jedem mehr oder weniger «naturalistischen» Werk wird ein Teil der
bereits existierenden Welt entliehen (Mensch, Tier, Blume, Guitarre,
Pfeife . . .) und unter das Joch des künstlerischen Ausdrucks gebogen.
Zeichnerische und malerische «Verarbeitung» des «Gegenstandes».
Die abstrakte Kunst verzichtet auf Gegenstände und ihre Verar-
beitung. Sie schafft sich die Ausdrucksformen selbst.
Wie dies geschieht, ist eine komplizierte Frage. Ich könnte nur eins
sagen: meiner Überzeugung nach soll dieser schöpferische Weg ein
synthetischer sein. Das heißt, Gefühl («Intuition») und Kopf («Be-
rechnung») arbeiten unter gegenseitiger «Kontrolle». Dies kann auch
verschieden gemacht werden. Was mich anlangt, ziehe ich vor,
während der Arbeit nicht zu «denken». Es ist nicht ganz unbekannt,
daß ich nicht wenig an theoretischen Kunstdingen «geprüft» habe.
Aber: wehe dem Künstler, der sein «inneres Diktat» während der
Arbeit «kopfmäßig» stört.
214
So stellt die abstrakte Kunst neben die «reale» Welt eine neue, die
äußerlich nichts mit der «Realität» zu tun hat. Innerlich unterliegt
sie den allgemeinen Gesetzen der «kosmischen Welt».
So wird neben die «Naturwelt» eine neue «Kunstwelt» gestellt - eine
ebenso reale Welt, eine konkrete. Deshalb ziehe ich persönlich vor,
die sogenannte «abstrakte» Kunst Konkrete Kunst zu nennen.
215
Meine Holzschnitte
In No 3/1938 druckte XXe Sihle, Paris, einige farbige Holz-
schnitte nach, die Kandinsky 25 Jahre vorher, hauptsächlich für
Klänge, gemacht hatte. Sein Begleittext gibt Aufschluß über die
Entstehungsgeschichte seiner Holzschnitte und den Sinn seiner
poetischen Texte.
Schon während vieler Jahre schreibe ich von Zeit zu Zeit «Gedichte
in Prosa» und manchmal sogar «Verse».
Dies ist für mich ein «Wechsel des Instruments» - zur Seite die Palette
und an ihrem Platz die Schreibmaschine. Ich sage «Instrument», weil
die Kraft, die mich zur Arbeit treibt, immer dieselbe bleibt, das heißt
ein «innerer Druck». Und diese Kraft ist es, die von mir einen Wechsel
des Instruments verlangt.
Oh! ich erinnere mich gut: als ich anfing «Poesie zu machen», da
wußte ich, daß ich als Maler verdächtig werden würde.
Einst schaute man den Maler «schief» an, der schrieb - selbst wenn es
Briefe waren. Man wollte fast, daß er nicht mit der Gabel, sondern
mit dem Pinsel essen würde.
Das war eine strenge Zeit, voll von genauen «Einteilungen» und sehr
einfach in ihrer Logik. Wenn der Theoretiker denkt, ohne malen
zu können, dann soll der Maler malen, ohne denken zu können.
Das war die Zeit der «analytischen» Welt, der definitiv abgegrenzten
Spezialgebiete, deren «Grenzen» zu überschreiten man kein Recht be-
saß. Ein Zustand, der heute zwischen den verschiedenen Nationen
und Ländern besteht. Die strenge Teilung ist vom Bereich des «Gei-
stes» auf den der «Realitäten» übergegangen.
216
Diese «analytische Welt» in der Kunst, der Wissenschaft undsoweiter,
ist seither tieferschüttert worden; man hat heute diese Standpunkte
beinahe verlassen. Es ist unvorsichtig und ein Unglück, die Augen zu
schließen vor einigen Tatsachen (man könnte sagen «Ereignissen»),
die uns umgeben und die uns gegen die Freiheit der Synthese treiben.
Um so schlimmer für die, die den Weg verriegeln wollen.
Es wäre jedoch übertrieben optimistisch, zu glauben, daß die analyti-
sche Zeit verschwunden wäre und definitiv ersetzt wäre durch die
Synthese. Es ist noch weit bis zu ihrem Verschwinden, und sie macht
alles, um die Entwicklung der kleinen Wurzel der Synthese zu ver-
hindern. Meinetwegen! Alle «Taten», und vor allem die «Ereignisse»,
entwickeln sich langsam - die Wurzel braucht ihre Zeit, um recht in
die Tiefe vorzustoßen und die nötigen Kräfte zu gewinnen, um ihre
Pflanze ernähren zu können. Kurze Wurzel - kurzes Leben der
Pflanze. Und es gibt gar keinen Unterschied zwischen der Pflanze der
«Natur» und der der Natur im umfassenden Sinn.
Mein Buch Klänge,, erschienen in München im Jahr 1913 (Verlag
R. Piper & Cie). Das war ein kleines Beispiel synthetischer Arbeit.
Ich habe die Gedichte geschrieben und habe sie «geschmückt» mit
zahlreichen farbigen und Schwarzweiß-Holzschnitten. Mein Verleger
war ziemlich skeptisch, aber er hatte dennoch den Mut, eine Luxus-
ausgabe zu machen; mit besonderen Anfangsbuchstaben, handge-
machtes holländisches Papier, durchsichtig, ein kostbarer Einband
mit Golddruck undsoweiter. Kurz, eine Luxusausgabe von 300 Exem-
plaren, signiert und numeriert durch den Autor. Aber sein Mut gab
ihm eine vollständige Befriedigung. Das Buch war schnell vergriffen.
217
Gemäß unserem Kontrakt hatte weder er noch ich das Recht, eine
neue Auflage herauszugeben. So kann ich nur Fragmente des Buches
veröffentlichen.
Hier also sechs Holzschnitte. In diesen Holzschnitten wie in den
übrigen -Holzschnitten und Gedichten -findet man die Spuren meiner
Entwicklung vom «Figurativen» zum «Abstrakten» («Konkreten»
nach meiner Terminologie - exakter und ausdrucksvoller als der ge-
wöhnliche Ausdruck - wenigstens meiner Meinung nach).
Der größte der drei Farbholzschnitte ist nicht im Buch erschienen.
Er stammt aus dem Jahr 1908.
25 Jahre: das ist nach der Statistik eine Zeit, die genügt, damit eine
neue Generation auf die Welt kommt und reift.
Es ist mir eine Freude, Ihnen meine ehemaligen Anstrengungen zu
zeigen.
218
«Stabilite Animee»
1938 schrieb ich als Antwort auf unqualifizierte Angriffe auf unsere
Kunst einen Aufsatz «Über konkrete Kunst» für das Werk (Zürich,
No 8/1938). Ich bat verschiedene meiner älteren Kollegen um
kurze Beiträge zu je einer Abbildung. Es schrieben Kandinsky,
Mondrian und Vantongerloo. Kandinskys Text war begleitet von
einem gezeichneten Schema zum Bild «Stabilite animc» (1935).
Ich benützte den Text nicht. Weil keine Möglichkeit bestand, das
Bild farbig zu reproduzieren, erschien es mir besser, dieses Bild
und den Text durch etwas anderes zu ersetzen. Hier ist die damalige
Analyse wiedergegeben zusammen mit der schematischen Zeich-
nung. Das Bild ist heute farbig zugänglich im Buch von Henry
Rüssel Hitchcock : Painting Torvard Architecture über die «Miller Com-
pany Collection of Abstract Art», 1948, New York, Duell, Sloan
and Pearce.
Nachträgliche kur^e Analyse.
Steifer schematischer Aufbau: zwei betonte Vertikale. Oben rechts
ein Kreis - eine Form, die gleichzeitig hart und weich, steif und
locker ist, kon- und exzentrische Spannungen aufweist. In diesem
Fall wird die konzentrische Spannung durch die tief-violette Farbe
des Kreises und die benachbarte grüne Farbe unterstrichen. Das etwas
giftige Grün vergrößert die violette Vertiefung, und damit das Kon-
zentrische.
Die Zusammenstellung der beiden Farben und die Zusammenstellung
von Rund und Eckig bilden an dieser Stelle den stärksten Akzent
des Bildes.
Die «Verschiebungen» sind sparsam angewandt: einige schiefgestellte
viereckige und ovale Formen. Darunter das große rote Viereck links
unten.
Die Zusammenstellung von Weiß, Schwarz und Rot bildet im roten
219
Viereck den zweiten Akzent, wozu hauptsächlich die «schiefe» Lage
des Vierecks beiträgt.
Die beiden Akzente weisen eine unsichtbare Spannung zwischen ihnen
auf (siehe punktierte Linie auf der Skizze!). Diese Hauptspannung
geht in diagonaler Richtung und lockert dadurch die größeren und
kleineren horizontal-vertikalen Spannungen.
Die drei langen viereckigen Formen (von links nach rechts: weiß,
schwarz und grün) bekommen als kleinere Gegensätze hauptsächlich
dünne horizontale und sehr wenige diagonale Linien. So entstehen
mehrere milde Spannungen.
Einige «freie» Formen und schließlich die untere scharfe Spitze er-
höhen die «Lockerung», dienen zur «Bereicherung» des steifen Auf-
baues und erhöhen die «Pulsierung».
So wird das Hartstabile «animiert».
221
Der Wert eines Werkes der konkreten Kunst
1938 schrieb Kandinsky nochmals eine umfangreiche Abhandlung
für XXe Sihle (Paris, 1939, No 5-6/1 und 1-2/II): «Der Wert
eines Werkes der konkreten Kunst». Diese ist sowohl nach Um-
fang wie Inhalt als eine letzte Zusammenfassung seiner Theorien
und Ideen zu verstehen. Bald darnach brach der Krieg aus. Einen
kurzen Text ähnlicher Art schrieb er noch als Katalog -Vorwort
einer Ausstellung in der von Peggy Guggenheim in London neu
eröffneten Galerie.
Legen Sie neben einen Apfel noch einen Apfel. Sie werden deren
zwei haben.
Durch diese einfache Addition kommt man zu Hunderten, Tausenden
von Äpfeln, und die Vermehrung endet nie. Arithmetisches Verfahren.
Die Addition in der Kunst ist rätselhaft. Gelb -f gelb = gelb2. Geo-
metrische Progression.
Gelb + gelb + gelb -j- gelb . . . = grau. Das Auge ermüdet von zu-
viel gelb : physiologische Begrenzung.
So wird die Vermehrung zur Verminderung und endigt bei null.
Das ist «irrational», «unvernünftig».
Mißtrauen Sie der reinen Vernunft in der Kunst und versuchen Sie
nicht, die Kunst zu «verstehen», indem Sie dem gefährlichen Weg der
Logik folgen.
Weder die Vernunft noch die Logik können Kunstfragen austreiben,
aber ständige Korrekturen von Seiten des «Irrationalen» sind uner-
läßlich. Das «Gefühl» ist es, welches das «Hirn» korrigiert.
Diese Feststellung bezieht sich auf die Kunst im allgemeinen - ohne
Unterscheidung zwischen «gegenständlicher» und «konkreter» Kunst.
223
In dieser Hinsicht zeigen die beiden Arten keinen Unterschied. Aber
er existiert anderswo :
Die «gegenständliche» Malerei: der Künstler kann nicht vorübergehen
am Objekt (oder er bildet sich ein, es nicht zu können). Er verwendet
das Objekt als «Vorwand» zur reinen Malerei, die ihm immer wesent-
licher ist aJs das Objekt. Der Betrachter kann am Objekt nicht vor-
beigehen (oder er bildet sich ein, es nicht zu können), um die Malerei
zu «verstehen».
Die konkrete Malerei: Der Künstler befreit sich vom Objekt, weil
dieses ihn daran hindert, sich ausschließlich mit rein malerischen
Mitteln auszudrücken.
Dem Betrachter ist die «Brücke» entzogen, die ihm die Möglichkeit
gibt, an die reine Malerei heranzukommen, und wenn er gleichzeitig
des nötigen Gefühls enthoben wird, so ist er aus der Fassung ge-
bracht. Er bildet sich ein, keinen «Maßstab» mehr zu haben, um die
Kunst schätzen zu können.
Der Unterschied :
Die «gegenständliche» Malerei stützt sich auf einen mehr oder weniger
«literarischen» Inhalt, da das Objekt (selbst das bescheidenste und
leiseste) neben der reinen Malerei «spricht». (Vergleichen Sie eine
etwas radikale, aber verständliche Parallele: Ein Volkslied, dessen
Komposition eine einfache, in musikalischer Form gekleidete Er-
zählung ist, wird, der Worte beraubt, monoton und schließlich un-
möglich. Auf diese Weise wird auch die «gegenständliche», in mono-
tone malerische Formen «gekleidete» Malerei nur möglich, wenn
sie fortwährend das Objekt variiert.)
224
Die konkrete Malerei stellt eine Art Parallele dar zur sinfonischen
Musik, indem sie einen rein künstlerischen «Inhalt» liefert. Für diesen
Inhalt sind allein die rein malerischen Mittel verantwortlich.
Aus dieser ausschließlichen Verantwortung resultiert die Notwendig-
keit einer vollkommenen Exaktheit der Komposition und ihres
Gleichgewichts (Valeurs, Gewichte der «Formen» und «Flecken»
undsoweiter) sowie der «entschleierten» Teile der Komposition bis
zum letzten Punkt. Es resultiert daraus auch die Möglichkeit und die
Notwendigkeit der Phantasie für den der gewohnten «Vorwände» be-
raubten Maler, um sich frei zu entwickeln und ständig neue «Ent-
deckungen» zu liefern.
Diese Möglichkeiten sind unbegrenzt.
So wie wir gesehen haben, daß in der Kunst Vermehrung leicht zur
Verminderung wird, so sehen wir jetzt den entgegengesetzten Fall,
das heißt wie eine Verminderung zu einer Vermehrung wird. Das
unterdrückte Objekt vermindert nicht die Ausdrucksmittel, sondern
es multipliziert sie ins Unendliche.
Das ist künstlerische Mathematik - im Gegensatz zur Mathematik
der Wissenschaft.
Aber ... die Quantität ist noch nicht Qualität. Dieser Reichtum der
Ausdrucksmittel der konkreten Malerei muß als Grundlage - ich
wiederhole es - eine einwandfreie Exaktheit besitzen. Wie ist sie zu
messen? Das heißt welches ist die wahre Methode, um den Wert
eines Werkes zu bestimmen ?
Man kommt leicht auf die Idee, daß dieser Wert festgelegt werden
könnte :
225
1. durch die Kenntnis der konstanten, für den Künstler obligatori-
schen Regeln der Malerei, und
2. durch den Grad der Anwendung dieser Regeln in seinem Werk.
Wir werden sehen, ob diese obligatorischen Regeln existieren oder
einst existierten und ob es möglich ist oder ob es einst möglich war,
ihre Realisierung in irgendeinem Werk zu entdecken.
Hier einige Beispiele - ziemlich eindrückliche, meiner Meinung nach.
Die ehemaligen italienischen Rezepte verordneten exakt und streng:
«Wenn du einen Fisch im Wasser malen willst, muß deine erste Schicht
auf der Leinwand so und so sein . . . die zweite so und so . . .» «Willst
du einen Greis im Schatten malen, so sei deine erste Schicht ...»
So kam der Maler, scheint es, leicht zu einem Werk von Wert, und
der «Kenner» hatte die volle Möglichkeit, ihn zu konstatieren. Falsche
Schichten = Malerei ohne Wert.
Später, nach der Entdeckung der Perspektive, verloren die Schichten
ihren Kredit. Man endete bei dieser neuen Formel : Falsche Perspek-
tive = Malerei ohne Wert.
Die Wissenschaft trat ein in die Kunst. Und da das vorzugsweise
gebrauchte Thema der «hohen» Malerei der menschliche Körper war,
wurde das Studium der Anatomie unerläßlich - die Konstruktion des
Knochengerüstes, besonders des Schädels, der Nase, der Nasenflügel,
die Form und die Funktion der Muskeln undsoweiter. Das Zeichnen
wird eine Wissenschaft, und die Akademien schreiben vier Jahre Zei-
chenstudien vor, gefolgt von vier weiteren Jahren eigentlicher Mal-
lehre. Eine schöne Methode, die viel beigetragen hat zur Produktion
der «Pompiers».
226
Und man war vollständig überzeugt (wie man das manchmal noch
heute ist), daß diese «konsequenten» Studien dem jungen Maler den
Wert seiner Leinwände garantierten. Ein ziemlich dramatischer
Standpunkt für den «Kenner», der im allgemeinen nicht die geringste
Idee hatte von Anatomie. Also ein sehr rätselhaftes Resultat!
Unter den Tausenden - ja wir können sogar ohne Befürchtung sagen:
Hunderttausenden - von Leinwänden, untadelig vom Gesichtspunkt
der Anatomie und der Perspektive, findet man im allgemeinen eine
«quantite negligeable» von Leinwänden, die im Betrachter einen
tiefen Eindruck hinterlassen.
Diese korrekten Leinwände lassen sich mit derselben Leichtigkeit
vergessen wie eine nach allen Regeln des Konservatoriums ausge-
führte Musik, die man vergißt, im Moment, wo man den Konzert-
saal verläßt. Oder wie ein nach allen Regeln der Etymologie und
der Syntax geschriebenes Buch, das man schließt, ohne einem ein-
zigen Komma nachzutrauern.
Warum ?
Ließe sich dieses Mysterium nicht aufklären durch die Analyse der
Harmonie des Werkes? Da «die Malerei schön ist, wenn sie harmo-
nisch ist».
Diese Frage umfaßt zwei Seiten der Malerei - die der Farben und die
der Form im strengen Sinn (Zeichnung).
Die Harmonie der Farben. Leonardo da Vinci hatte (nach einer authen-
tischen Erzählung) ein System von kleinen, verschieden großen
Löffeln erfunden, um genau die Quantitäten der auf einer Leinwand
verwendeten Farben zu messen - ein «exaktes» Verhältnis von Blau,
227
Violett, Weiß undsoweiter. Diese Löffel waren voller Staub bei ihrem
Meister - er machte nie Gebrauch von seiner Erfindung.
Ein anderes System, verführerischer und mitunter noch heute befolgt,
besteht in der Addition irgendeiner Farbe (ein «Verdacht» !) zu all den
andern notwendigen Farben einer sich in Arbeit befindenden Lein-
wand - ein wenig Grün oder Rot oder ein wenig von einer anderen
Farbe dient als «Brücke» zwischen allen verwendeten Farben und
garantiert mit Sicherheit die Harmonie - die vollständige Harmonie.
Wie Sie sehen, schließt dieses System die reinen Farben aus, über die
ich im folgenden sprechen werde. Was dieses System der «Brücke»
mit seiner vollen Garantie für untadelige Harmonie betrifft, wäre es
nicht gefährlich, es immer und ohne Ausnahme zu verwenden?
Würde man nicht Gefahr laufen, eine unbegrenzte Zahl von hoffnungs-
los monotonen und langweiligen Werken zu produzieren ?
Wäre es nicht vorteilhaft, um die Möglichkeiten zu bereichern, auch
das Gegenteil des Systems der «Brücke» zuzulassen, das System der
reinen Farben?
Der Regenbogen ist harmonisch. Die Variationsmöglichkeiten wären
sehr begrenzt, aber die Harmonie gesichert. Sie wäre gesichert,
wenn man unsere Palette identifizieren könnte mit derjenigen des
Regenbogens. Aber verschiedene Fabriken produzieren nicht das
gleiche Zinnober. Die reinen Farben - ein schöner, nicht realisier-
barer Traum.
Die «absoluten» Mittel gibt es nicht in der Malerei.
Es gibt nur relative Mittel.
Das ist eine positive und erfreuliche Tatsache, denn es ist die Relati-
228
vität, aus der die unbegrenzten Mittel und der unerschöpfliche
Reichtum der Malerei entstammen.
Ja, die Harmonie! Eine komplizierte Angelegenheit, an die man sich
verlieren kann. Das Gegenteil der Harmonie ist die Disharmonie.
Und im Laufe der ganzen Geschichte der Malerei wird die Disharmonie
von gestern zur Harmonie von morgen. Die Kunst ist ein kompli-
ziertes Phänomen.
Ich möchte nicht durch zuviele Details langweilen, aber wie kann man
an einigen Beispielen vorübergehen? Ich werde sie kurz darstellen:
Die Rolle der Dimensionen der «Farbflecken», die der Nachbarfarben
mit ihren Dimensionen, der gegenseitige Einfluß aller Teile der Lein-
wand undsoweiter. Eine kleine Form kann einen so starken «Akzent»
erhalten, daß sie vollständig die Größe verändert. Die Intensität und
die Wichtigkeit der großen Formen. Das ist wie eine Sirene, die allen
Lärm der Stadt überdeckt, die Straßen enger und die Häuser kleiner
macht. Ich komme nicht darum herum, ein Wort über die Bedeutung
der von einer Form besetzten Stelle der Leinwand zu sagen. Ich habe
in einem meiner Bücher versucht, eine Analyse der «Spannungen»
der leeren Leinwand zu geben, das heißt der latenten, eingeschlossenen
Kräfte, und ich glaube, zu einigen richtigen Definitionen gekommen
zu sein über die wesentlich verschiedenen «Spannungen» von «oben»
und «unten», von «rechts» und «links».
Ein blauer Kreis, oben links auf der Leinwand, ist nicht mehr der-
selbe, wenn er nach unten rechts verlegt wird - das «Gewicht», die
Größe, die Intensität, der Ausdruck sind verschieden. Dies ein
Beispiel von der bedeutenden Rolle des «Details».
229
Die Leinwand ist eingeteilt in große und kleine Teile. Die Dimen-
sionen dieser Teile produzieren die «Proportion». Die Proportion
entscheidet den Wert des Werkes.
Die Harmonie der Formen der Zeichnung.
Wie die richtige Proportion finden ?
Kann sie errechnet werden ?
Ein einfacher Versuch : man legt auf ein Stück Papier von der Größe
20 x 40 cm zwei Rechtecke - eines von 2x4 cm, das andere von 4 X 8cm.
Auf schematische Weise erreicht man so, durch richtige Proportion,
eine Harmonie. Das ist keine allzu erfreuliche «Komposition», aber
wenigstens eine von garantiertem Wert.
Aber da zeigt sich ein neues Hindernis : die Farben ändern die Dimen-
sionen. Ein sehr einfaches Beispiel : ein schwarzes Quadrat auf Weiß
macht einen kleineren Eindruck als ein weißes Quadrat auf Schwarz.
Es sind die optischen Proportionen, die die mathematischen Pro-
portionen zerstören und sie ersetzen.
Die Wirkung einer Malerei ist - unglücklicher- oder glücklicherweise
- optischer Natur.
Was bleibt noch von der «richtigen Proportion» ?
(Ist sie richtig beim Sperling oder beim Vogel Strauß ? Bei der Giraffe
oder beim Maulwurf?)
Und dennoch!
Wir kennen Beispiele von errechneten Werken. Es ist sicher, daß
dieses «Rechnen» bald aus dem Unterbewußten, bald mathematisch
vorgenommen wird. Es «springt in die Augen», oder es erfordert, um
sichtbar zu werden, der Messung.
230
Ein russischer Musiker, M. Chenchine, unternahm vor gut zwanzig
Jahren eine beeindruckende Analyse. Er hatte zwei Stücke von Liszts
Jahre der Pilgerschaft - das eine inspiriert durch Michelangelos Pensie-
roso, das andere durch Raffaels Sposali^to - gemessen.
Im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen maß er auch die beiden
Bildwerke aus. Das Resultat war überraschend: Michelangelos
Pensieroso zeigte die gleiche «Formel» wie das dieser Plastik zuge-
eignete Musikwerk (Formel in Zahlen). Das gleiche traf für Raffaels
Sposali^io und dem entsprechenden Musikwerk von Liszt zu. Ich
glaube, daß wir in diesen Fällen die beiden Arten von «Rechnen» vor
uns haben. Wenn man annehmen kann, daß die beiden Werke der
bildenden Kunst direkt errechnet waren: das heißt mit Hilfe einer
mathematischen Methode, so ist es andererseits außer Zweifel, daß
Liszt die beiden Formeln erraten hat - aus dem Unterbewußten. Er
hat die Bildwerke «übersetzt» auf Grund identischer Formeln, ohne
diese zu kennen.
Und dennoch! Es wäre verderblich, allen seinen Glauben in das
Rechnen zu legen. Mit den «großen Zahlen» ginge es noch an (aber
man vergesse das weiße und schwarze Quadrat nicht!) - 2, 4, 6, 8 . . .
Die Farbe läßt sich nicht messen bis in die kleinsten Details, bis zu
den letzten Differenzen, die nur durch «Gefühl», das heißt durch
Intuition gefunden werden können.
Nun sind es gerade die Details, welche die «Musik» machen. Wenn
sie zwei Personen von genau gleicher Statur rinden, von gleicher
Schulter- und gleicher Hüftbreite, mit Armen, Händen, Beinen und
Füßen von gleichen Ausmaßen, werden sie nie sagen, diese Personen
231
seien identisch. Die «große Proportion» entscheidet nie. Es sind
die Details, die entscheiden: das Augenlid, der Nagel des kleinen
Fingers der linken Hand undsoweiter. Die kleinsten Details.
Gleich ist es bei der Malerei: die «unbedeutendsten», manchmal
«unsichtbaren» Unterschiede sind oft von größerer Wichtigkeit als
die «große Proportion» und entscheiden den Wert eines Werkes.
Es gibt keine andere Mittel, um «optische Proportion» zu erreichen.
Ist es möglich, den reinen Glauben eines Henri Rousseau nicht un-
endlich zu verehren, der vollkommen überzeugt war, nach «Diktat»
seiner verstorbenen Frau zu malen? Die Künstler kennen diese
«geheimnisvolle Stimme» gut, die ihren Pinsel führte und ihnen
Zeichnung und Farbe «mißt». Die Kunst ist kosmischen Gesetzen
unterworfen, die durch die Intuition des Künstlers aufgedeckt werden,
zum Gewinn seines Werkes und zum Gewinn des Betrachters, der
sich oft darüber freut, ohne um das Mitwirken dieser Gesetze zu
wissen.
Es ist ein rätselhafter Vorgang.
Ist es nicht traurig, sich so mit Rätseln zu plagen ? Ich habe mit einer
Frage begonnen und ich habe ein Fragezeichen an das Ende dieses
letzten Satzes gesetzt - ein «Hexenkreis».
Ich stelle mir dennoch vor, zwei Sachen von ziemlicher Wichtigkeit
gesagt zu haben.
Ich habe die entscheidende Rolle des Details energisch unterstrichen,
und ich hoffe, ein gewisses Mißtrauen hervorgerufen zu haben gegen
die auf «äußerlichen» Indizien beruhende «Kunstkritik», gegen das
Kriterium der «Technik» der Malerei, gegen «objektive» Maße des
232
Wertes, gegen «wissenschaftliche» Indizien im allgemeinen. Alles
eher negative Antworten.
Es bleibt mir der Versuch, diesem Negativen abzuhelfen durch einen
positiven «Zusatz». Es ist genügend bekannt, daß jede «Kunstepoche»
ihre besondere «Physiognomie» besitzt, die sie von der Vergangenheit
und der Zukunft unterscheidet. Jede Epoche zeigt einen neuen gei-
stigen «Inhalt», den sie durch genaue und überzeugende Formen aus-
drückt. Diese Formen sind neu, unerwartet, überraschend und deshalb
herausfordernd: man widersetzt sich allgemein gegen diese heraus-
fordernden Formen, weil sie einen neuen Geist ausdrücken, einen
Geist, der der bequem gewordenen Tradition feindlich ist. Denn nur
langsam gewöhnt sich die Menschheit an den Wechsel geistiger Inhalte.
Eine bestimmte Epoche mit ihrer ausgesprochenen Physiognomie
ist nichts anderes als die Summe der vollständigen Werke der Künstler
dieser Epoche. Und es ist ganz natürlich, daß jedes Gesamtwerk
irgendeines Künstlers dieser Zeit seinerseits eine ausgesprochene
Physiognomie aufzeigt. Diese Physiognomie ist nur der Ausdruck
einer bis dahin unbekannten Welt, welche durch die Intuition des
Künstlers entdeckt wurde.
Es ist folglich offenbar, daß :
1. es schwierig ist (wenn nicht unmöglich), ein einzelnes Werk irgend-
eines Künstlers zu «beurteilen», ohne so weitgehend wie möglich
sein Gesamtwerk zu kennen,
2. und daß es nötig ist - wenn diese Bekanntschaft mit dem Gesamt-
werk erworben ist -, sich zu fragen, ob es eine neue, bisher unbe-
kannte Welt zeigt.
233
Der Wert des Gesamtwerkes hängt von der Mannigfaltigkeit der
Ausdrucksformen (der «Reichtum» der Inhalte) und der Kraft (die
«Genauigkeit») dieses Ausdrucks ab. Gleichzeitig ist - trotz dieser
Verschiedenheit - jedes einzelne Werk eines Künstlers von Wert
so bezeichnend und dem Gesamtwerk verbunden, daß der Ursprung
dieses Einzelwerks offensichtlich ist - man erkennt die «Handschrift»
des Künstlers.
Die Ausdruckskraft in der Verschiedenheit der einzelnen Werke
und im Gesamtwerk, diese «Physiognomie», ausgedrückt durch einen
Künstler, welcher der Menschheit eine ihr bisher unbekannte Welt
eröffnet, - dies ist meiner Meinung nach der «Schlüssel» des Wertes
. . .eines «figurativen» oder «konkreten» Werkes.
Ja, dieser «Schlüssel» öffnet gleicherweise die Tür zur Malerei mit
oder ohne «Objekt».
Und dieser Schlüssel zeigt auch deutlich, daß der Unterschied zwi-
schen diesen beiden Malereien in einer übertriebenen Weise behandelt
wird. Eine unbekannte Welt kann mit oder ohne Objekt aufgedeckt
werden. Andrerseits jedoch besteht ein ausdrücklicher Unterschied
zwischen diesen beiden Ausdrucks- oder Enthüllungswelten.
Das Objekt! Es ist nicht selten, daß der Betrachter, der das Objekt
sieht, glaubt, die Malerei zu sehen. Er erkennt ein Pferd, eine Vase,
eine Violine, eine Pfeife, aber den rein malerischen Gehalt läßt er
sich leicht entgehen. Andrerseits, wenn das Objekt verschleiert ist oder
unkenntlich gemacht wird durch den Maler, so hält sich der Betrachter
an den Titel des Bildes, der auf das Objekt anspielt. Der Betrachter
ist befriedigt und hat die Illusion, die Malerei selbst zu genießen.
234
Das Objekt wird manchmal zur Geistestäuschung.
In einem solchen Fall verwandelt sich die «Brücke» zwischen der
Malerei und dem Betrachter zu einer Mauer.
Gleichzeitig das Objekt und die Malerei zu sehen, ist eine Fähigkeit,
die sich vom angeborenen Gefühl und der Übung ableitet. Gleicher-
weise die Fähigkeit, konkrete Malerei zu sehen. Ich habe genügend
oft Betrachter gesehen, die sich lebhaft für die konkrete Kunst inter-
essierten, ohne sie zu «verstehen» und deren Augen dann in einem
unerwarteten Moment geöffnet wurden. Es war schön, die Freude der
«Entdeckung» mitanzusehen.
Es sei mir gestattet, einige kurze Worte über meine persönlichen
Absichten zu sagen. Es ist schon viele Jahre her, daß ich zur kon-
kreten Malerei überging - nicht ohne beträchtliche Anstrengungen,
da es nötig war, das Objekt durch eine rein malerische Form zu ersetzen.
Ich mußte auf das Diktat der «geheimnisvollen Stimme» warten. Sie
war mir günstig, weil ich die Malerei zu sehr liebte, um sie durch
Objekte zu verschleiern. Man findet keine Kunstformen «absichtlich»
und durch Forcierung, und es gibt nichts Gefährlicheres, als aus
logischen Gründen auf eine neue Ausdrucksweise überzugehen.
Mein Rat geht deshalb dahin, der Logik in der Kunst zu mißtrauen.
Und auch anderswo vielleicht. Zum Beispiel in der Physik, wo
gewisse neue Theorien einige Beweise geliefert haben vom Unge-
nügen der «positiven» Methoden. Man beginnt vom «symbolischen
Charakter der physikalischen Substanzen» zu sprechen. Die Welt
scheint der «Tätigkeit unbegreiflicher Modell- Symbole» unterworfen.
In meiner Eigenschaft als Nicht-Gelehrter sondern als Künstler,
235
könnte ich vielleicht die Frage stellen: «Sind wir am Vorabend des
Bankrotts der rein «positiven» Methoden angelangt»? Zeigt sich
nicht die Notwendigkeit, sie durch unbekannte (oder vergessene)
Methoden zu vervollständigen, durch Methoden, die das «Unter-
bewußte», das «Gefühl» rufen, die man oft «mystische» nennt? In
dieser Eigenschaft als unverantwortlicher Künstler erlaube ich mir
eine bejahende Aussage: die «Mauern» zwischen den verschiedenen
Künsten sind am verschwinden — Synthese — , und die dicke Mauer
zwischen der Kunst und der Wissenschaft schwankt — «Die Große Syn-
these».
Versuchen wir also nicht, in Kunstfragen Methoden anzuwenden,
die in der Wissenschaft ihren Wert zu verlieren beginnen. Was mich
anbelangt, bin ich glücklich zu wissen, daß es in der Kunst nie «wissen-
schaftliche Maßstäbe» geben wird, um ihren Wert zu messen. In
Wirklichkeit würden diese «Maße» ein neues Hindernis darstellen
für das «Verstehen» der Kunst. Die Vernunft würde das «Gefühl»
ersetzen, das heißt die schöpferische Kraft des Künstlers und den
notwendigen «Führer» des Betrachters, um in ein Werk «eintreten»
zu können.
Die heute zu sehr geschätzte Vernunft würde die einzige «unver-
nünftige» Domäne zerstören, die der heutigen armen Menschheit
noch bleibt.
Und gerade heute sehen wir nur zu viele Beispiele von ausgeübtem
Zwang auf die Kunst, damit diese vernünftig werde. Demütigende
Beispiele.
Ich sagte einst oft zu meinen Schülern : «Denken Sie soviel Sie wollen
236
und soviel Sie können - das ist eine schöne Gewohnheit! -, aber
denken Sie nie vor ihrer Staffelei». Ich möchte gerne denselben Rat
den Leuten geben, die vergeblich «Wertmaßstäbe» suchen: «Halten
Sie ihr Ohr hin zur Musik, öffnen Sie ihr Auge für die Malerei. Und
denken Sie nicht!»
Prüfen Sie, wenn Sie wollen, nachdem Sie gehört haben, nachdem Sie
gesehen haben.
Fragen Sie sich, wenn Sie wollen, ob Sie dieses Werk «entführt»
hat in eine ihnen bisher unbekannte Welt. Wenn ja, was wollen
Sie mehr?
237
Jede geistige Epoche
1942 gab ich im Allianz- Verlag in Zürich eine Mappe, 10 origin,
mit 10 originalgrafischen Blättern heraus von Jean Arp, Max Bill,
Sonia Delaunay, Cesar Domela, Wassily Kandinsky, Leo Leuppi,
Richard Paul Lohse, Alberto Magnelli, Sophie Tseuber-Arp und
Georges Vantongcrloo. Ein Teil der Blätter war, meist im gehei-
men, in Paris und Südfrankreich gedruckt und in die Schweiz ge-
schmuggelt worden. Nebenstehender letzter Holzschnitt von Kan-
dinsky war sein Beitrag. Nachstehende Textkonzentration, die,
neben Kurztexten von Arp, Magnelli und Bill, die Einleitung
bildete, ist sein letztes veröffentlichtes theoretisches Bekenntnis.
Jede geistige Epoche drückt ihren besonderen Inhalt in einer Form
aus, die genau diesem Inhalt entspricht. Jede Epoche erhält auf
diese Weise ihre wahre «Physiognomie», voller Ausdruck und Kraft,
und so verwandelt sich «gestern» in «heute» in allen geistigen Be-
reichen. Aber die Kunst besitzt außerdem noch eine ihr ausschließlich
zugehörige Qualität, nämlich die, im «Heute» das «Morgen» zu er-
raten - eine schöpferische und prophetische Kraft.
239
fea
Die farbigen Reliefs von Sophie Taeuber-Arp
Der letzte Text, den Kandinsky schrieb, entstand im Juni 1943,
unter dem Eindruck des Todes von Sophie Tacuber-Arp, über
ihre farbigen Reliefs. Es ist das erste und einzige Mal, daß sich
Kandinsky, damals fast 77 Jahre alt, ausschließlich über das Werk
eines anderen Künstlers schriftlich äußerte. Es ist dies nicht ganz
zufällig. Der Tod von Sophie am 13. Januar 1943 hinterließ für alle
in unserem Kreis eine schmerzliche Lücke. Jeder der mit ihr zu tun
hatte, war berührt von ihrem lauteren Wesen. Deshalb wohl fand
Kandinsky für ihr Werk Worte besonderer Anerkennung.
Sophie Tacuber-Arp wählte das «farbige Relief» als Ausdrucksmittel
vor allem in den letzten Jahren ihres Lebens. Sie bediente sich dabei
fast ausschließlich der einfachsten Formen, geometrischer Formen.
Durch ihre Zurückhaltung, ihre Stille, durch ihre Eigenschaft,
selbständiger Ausdruck zu sein, laden die Formen die geschickte
Hand ein, sich der Sprache zu bedienen, die ihr eigen und die oft nur
ein Flüstern ist. Aber manchmal ist das Geflüster ausdrucksvoller,
überzeugender, eindringlicher als das Laute, das sich dann und wann
zu Ausbrüchen hinreißen läßt.
Um sich Meisterschaft über die «stummen» Formen aneignen zu
können, ist Begabung mit einem feinen Sinn für Maß nötig, muß man
die Formen an und für sich zu wählen wissen: je nach der Beziehung,
die zwischen ihren drei Dimensionen besteht, nach ihren Propor-
tionen, ihrer Höhe, ihrer Tiefe, ihrer Fähigkeit, sich kombinieren
zu lassen, ihrer Art, zu einem Ganzen beizutragen - in einem Wort:
man muß den Sinn für Kombination haben.
Alle diese Anforderungen komplizieren die Aufgabe, selbst wenn es
241
sich nur um monochrome Plastik (Plastik aus Stein) handelt. Zur
Schönheit der Volumen fügt sich bei den «kolorierten Reliefs» von
Sophie Taeuber-Arp das Geheimnisvolle, die erregende Macht der
Farbe, die bald die Stimme der einfachen Form belebt, bald einen
Akzent mäßigt; die das Strenge der einen Form betont, während sie
einer andern Milde mitteilt; die dieses Hervorspringen unterstreicht
und jenes unaussprechlich verringert. Und so bis ins Unendliche.
Ein Widerhall von Stimmen, eine Fuge.
Das Arsenal der Ausdrucksmittel ist von einem unerschöpflichen
Reichtum. Die größten Gegensätze sind: «laut» und «leise». Dem
Donner der Pauken und Trompeten einer Ouvertüre von Wagner
steht die leise, die «monotone» Fuge von Bach gegenüber.
Hier : der Donner und die Blitze, die den Himmel zerfetzen, die Erde
erschüttern. Dort : ein Himmel glatt und grau, in seiner ganzen Weite,
und der Wind hat sich zurückgezogen in ferne Gegenden. Das kleinste,
nackte Reis bleibt unbeweglich, das Wetter ist weder warm noch
kalt.
Sprache der Ruhe.
Sophie Taeuber-Arp hat sich unfehlbar, ohne «Furcht und Tadel»,
ihrem Ziel genähert.
242
Tafel -Verzeichnis
S. 13 1910 No 1. Studie zu «Komposition II». 30,25 x 23,75
14 1910 Studie zu «Improvisation No 14». 30 x 20,5
33 1912 No 4. 21,5 x 28,5
46 1912 No 6. 21,5 x 34,5
53 1912 No 2. 25 x 25,5
57 1918
60 1923 No 12. 23,3 x 30,3
63 1924 No 10. 34,2 x 24,5
68 1925 No 23. 25,3 x 31
74 1925
78 1925 No 5. 31 x 39
83 1925 No 14. 31 x 38,5
86 1928 No 3. 16,5 x 18
108 1929 No 10. 5,25 x 26,5
112 1930 No 21. Schema für das Bild «Weiß auf schwarz» (1930)
22 x 27,5
118 1931 No26. 18x22
129 1932 No 32. 19 x 32,3
133 1931 No 36. 27 x 32,5
139 1932 No 12. 23 x 35
143 1932 No 21. 29,5 x 31,3
148 1933 No 14. 31 x 39
151 1934 No 7. 23 x 33
163 1934 No 6. 23 x 35
166 1937 No 2. 22,3 x 32,75
175 1938 No 2. Schema nach dem Bild «Stabilite anime» (1937)
27,3 x 32
192 1938 No 4. 26 x 38
201 1939 No 3. 14 x 22
206 1939. 16x22
212 1939 No 7. 16,3 x 21,75
220 1937
222 1940 No 5. 17,5 x 28
238 1942. Holzschnitt für «10 Origin». 21 x 27
240 1942 No5. 20x27
243 1944 No 5. 28,3 x 19
Bild «Weiß auf schwarz», 1930, auf dem Schutzumschlag
Außer dem Holzschnitt auf Seite 238 handelt es sich bei allen Tafeln
um Reproduktionen nach Zeichnungen in Tusche auf Papier.
Inhalt
S. 5 Einführung von Max Bill
15 Über die Formfrage. 1912
47 Über Bühnenkomposition. 1912
61 Die Grundelemente der Form. 1923
64 Farbkurs und Seminar. 1923
69 Über die abstrakte Bühnensynthese. 1923
75 Tanzkurven. 1926
79 Der Wert des theoretischen Unterrichts in der Malerei, 1926
87 und. 1927
99 Analyse der primären Elemente der Malerei. 1928
109 Modeste Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung. 1928/30
113 Kunstpädagogik. 1928
119 Die kahle Wand. 1929
123 Der Blaue Reiter. 1930
130 Paul Klee. 1931
134 Betrachtungen über die abstrakte Kunst. 1931
144 Fragen und Antworten. 1935
149 Berechnung. 1935
152 Die Kunst von heute ist lebendiger denn je. 1935
164 Linie und Fisch. 1935
167 Leere Leinwand undsoweiter. 1935
172 Abstrakte Malerei. 1935
181 Zwei Richtungen. 1935
185 Franz Marc. 1936
193 Zugang zur Kunst. 1937
202 Interview Nierendorf-Kandinsky. 1937
207 Konkrete Kunst. 1938
213 abstrakt oder konkret. 1938
216 Meine Holzschnitte. 1938
219 Stabilite Animee. 1938
223 Der Wert eines Werkes der konkreten Kunst. 1939
239 Jede geistige Epoche. 1942
241 Die farbigen Reliefs von Sophie Taeuber-Arp. 1943
244 Verzeichnis der Tafeln.
Im Benteli -Verlag, Bern-Bümpliz, erschien:
Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst
mit Einführung von Max Bill.
144 Seiten mit den 10 Holzschnitt-Illustrationen,
die Kandinsky 1910 für die Originalausgabe machte.
4. Auflage 1952. 5. Auflage 1956.
Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche
mit Einführung von Max Bill.
212 Seiten mit 127 Abbildungen, die der
Originalausgabe beigegeben waren, dem Bauhausbuch
Band 9, 1926 herausgegeben von Walter Gropius
und L. Moholy-Nagy.
3. Auflage 1955.
Beide Bände sind broschiert, im übrigen in gleicher Ausführung wie
das Buch «Essays über Kunst und Künsder».
charakteristisch wiedergegeben wird, von 191C, dem Beginn
seiner ersten konkreten Bildwerke, bis 1944. dein Jahre seines
Todes. Es ist das erste Mal, daß in diesem Umfang und in SO
reicher Auswahl Zeichnungen von Kandinsky veröffentlicht
werden. Dadurch füllen die den Text hier begleitenden Zeich-
nungen eine Lücke aus, denn, wie es bei Kandinsky ein nam-
haftes graphisches Werk (Radierungen, Holzschnitte und
Lithographien) gibt, entstanden auch selbständige Zeichnun-
gen, die nicht als Ölbilder wiederkehren. Es handelt sich dabei
meist um Zeichnungen, bei denen er ein bestimmtes Form-
oder Kompositionsprinzip darstellt.
Wir haben bei Kandinsky den Fall einer Identität von ge-
staltendem Schaffen und schriftlicher Äußerung vor uns, der
in seinem Bemühen, sich über das Künstlerische hinaus auch
intellektuell, vor sich selbst und vor seiner Umwelt, zu recht-
fertigen, mit besonderer Eindeutigkeit dasteht.
Damit befindet sich Kandinsky in der bevorzugten Lage, sich,
durch seine Äußerungen, vor Fehlinterpretationen Dritter
weitgehend geschützt zu haben. Wenn man erlebt, was heute
von mehr oder weniger Berufenen in die Kunstwerke und in
das Leben der Künstler hineingeheimnißt wird, ist man Kan-
dinsky dankbar für seine authentischen Essays über Kunst
und Künstler.
Verlag Gerd Hatje Stuttgart